4.1.1 Abriß der lydischen Geschichte

Die Anfänge der Geschichte Lydiens liegen für Herodot in mythischer Vorzeit. So sollen die ersten lydischen Könige Abkömmlinge des Lydos gewesen sein, nach dem das zuvor Maioner 81 genannte Volk dann seinen späteren Namen erhalten habe (Hdt. I 7,3). Von der "lydischen" Dynastie gelangte die Königswürde unter nicht näher erläuterten Umständen dann zu Abkömmlingen des Herakles, die zusammen 22 Menschenalter hindurch - mit 505 Jahren ist gleichfalls eine genaue Zahl angegeben - regiert haben sollen (Hdt. I 7,4).

Abb. 18: Karte Kleinasiens

Abb. 18: Karte Kleinasiens.

Ausführlicher wird die Erzählung mit der Reihe von Königen aus dem Haus der Mermnaden, die mit Gyges beginnt und mit Kroisos endet. Bei den Mermnaden gibt Herodot die Regierungsdauer eines jeden einzelnen von ihnen in Jahren an. Gyges wurde durch die Ermordung des Kandaules, seines Vorgängers aus dem Haus der Herakliden, König von Lydien, wobei er seinen Herrschaftsanspruch durch einen Orakelspruch der delphischen Priester bestätigen ließ (Hdt. I 13,1). Anläßlich der Erwähnung von Weihegeschenken des Gyges für Delphi läßt uns Herodot wissen, daß Midas, Sohn des Gordios und König von Phrygien, aber bereits vor Gyges als erster Barbar Weihegeschenke nach Delphi stiftete (Hdt. I 14,2.3). Aus der achtunddreißigjährigen Regierungszeit des Gyges sind dem Herodot außer den Einfällen in das Gebiet Milets und Smyrnas und der Eroberung Kolophons jedoch keine erwähnenswerten Ereignisse bekannt.

Während der Herrschaft des Ardys, des Sohnes des Gyges, soll die lydische Hauptstadt Sardes von den Kimmeriern eingenommen worden sein, wobei nur die Burg widerstehen konnte (Hdt. I 15). Herodot berichtet nicht, was die Kimmerier zu ihrem Feldzug gerade gegen Sardes bewogen hatte, gibt jedoch an, daß die Kimmerier von skythischen Nomaden aus ihrem Land vertrieben wurden und "nach Asien" geflohen waren. Herodot überliefert nicht, wohin sich die Kimmerier nach ihrer Eroberung von Sardes wandten 82 bzw. ob sie sich irgendwo niederließen 83. Zumindest aber während der zwölfjährigen Herrschaft des Sadyattes, des Nachfolgers des Ardys, müssen die Kimmerier im Einflußbereich Lydiens geblieben sein. Auch von Ardys weiß Herodot außer einem Feldzug gegen Milet und der Eroberung von Priene nichts zu berichten.

Nach neunundvierzigjähriger Herrschaft folgte dem Ardys sein Sohn Sadyattes auf den Thron, der zwölf Jahre lang herrschte (Hdt. I 16,1). Von Sadyattes hat uns Herodot nur zu berichten, daß dieser in den letzten sechs Jahren seiner Regierung einen Krieg gegen Milet führte, der von seinem Sohn Alyattes weitere sechs Jahre fortgesetzt wurde.

Von diesem Alyattes teilt uns Herodot mit, daß er einen Krieg gegen die Meder unter Kyaxares führte und daß er es war, der die Kimmerier "aus Asien" 84 vertrieben hat (Hdt. I 16,2). Zwar erwähnt Herodot auch die Eroberung von Smyrna und einen Angriff auf Klazomenai (Hdt. I 16,2), jedoch eine umfangreichere Schilderung ist ihm nur der bereits erwähnte Krieg gegen Milet wert (Hdt. I 17-22). Seltsam kurz hingegen behandelt Herodot den Abschnitt der siebenundfünfzigjährigen Herrschaftszeit des Alyattes, der dem Friedensschluß mit Milet folgte und somit über 50 Jahre umfassen mußte: "Als Alyattes von Lydien den Krieg mit den Milesiern aufgegeben hatte, starb er nach siebenundfünfzigjähriger Regierung" (Hdt. I 25,1). Weil aber Alyattes diesen Krieg gegen Milet bereits von seinem Vater übernommen hatte (Hdt. I 18; I 19,1), muß dieser in die ersten sechs Jahre seiner Herrschaft gefallen sein. Dies zeigt, wie schwierig die Ableitung einer exakten chronologischen Abfolge der von Herodot erwähnten Ereignisse ist, wenn er deren zeitliches Verhältnis nicht ausdrücklich angibt. Wann innerhalb der siebenundfünfzigjährigen Regierung des Alyattes also die Vertreibung der Kimmerier oder die auch erwähnte Auseinandersetzung mit den Medern unter Kyaxares stattgefunden haben, wird von Herodot nicht angegeben.

Nach dem Tod des Alyattes bestieg mit Kroisos der letzte der Mermnaden den lydischen Thron. Für die Griechen, und damit auch für Herodot, hatte dieser besondere Bedeutung, weil er der erste Barbar gewesen sein soll, der Hellenen tributpflichtig machte (Hdt. I 6,2). Nachdem Kroisos den lydischen Herrschaftsbereich auf fast alle Völker Kleinasiens westlich des Halys ausgedehnt hatte (Hdt. I 6,1; I 28,1), beendete zuletzt seine Niederlage gegen den Perser Kyros und die anschließende persische Eroberung von Sardes seine vierzehnjährige Herrschaft, und Lydien wurde dem persischen Reich einverleibt (Hdt. I 86,1).

Während Herodot die Regierungszeiten der lydischen Könige in Jahren angibt, überliefert er nicht, in welchen Jahren die Eroberung von Sardes durch die Kimmerier bzw. deren Vertreibung aus Asien stattfanden. Da er für Ardys eine neunundvierzigjährige und für Alyattes sogar eine siebenundfünfzigjährige Regierungszeit angegeben hat, bleibt nach Herodot zunächst ein weiter Zeitraum für den Aufenthalt der Kimmerier im westlichen Kleinasien. Nur durch absolutchronologische Verankerung einzelner Ereignisse, deren zeitliches Verhältnis zueinander wiederum feststehen muß, kann versucht werden, diese Zeitspanne einzuengen.


81 Diese Angabe des Herodot ist wahrscheinlich der Ilias entnommen, welche die Maioner am Berg Tmolos und am See Gygaia ansiedelt (Hom. Il. II 864-866). Dieser Gyges-See ist auch durch Herodot bezeugt (Hdt. I 93,10.11; vgl. Strab. XIII 4,5), ebenso wie der Berg Tmolos (Hdt. I 93,1; vgl. Strab. XIII 4,5).
82 Mit der Redewendung "nach Asien" (Hdt. I 15,2; vgl. I 103) verbindet sich aber zwangsläufig die Frage nach den geographischen Vorstellungen des Herodot von den Grenzen zwischen den Erdteilen (vgl. Fußnote 84).
83 In den Ethnika des Stephanos von Byzanz findet sich ein Hinweis des Aristoteles, daß Kimmerier 100 Jahre lang in der am Südhang des Ida liegenden Stadt Antandros gesiedelt hätten (Steph. Byz. 97,16-21).
84 Eine Interpretation der Redewendung "aus Asien" ist nicht problemlos möglich, weshalb diese häufig auch verweigert wird. So gingen - um nur ein Beispiel zu nennen - W.W. How und J. Wells in ihrem Kommentar zum Werk Herodots überhaupt nicht auf die Formulierungen "nach Asien" bzw. "aus Asien" ein, sondern gaben statt dessen nur einen kurzen Überblick über die aus den griechischen und vorderasiatischen Quellen rekonstruierte Geschichte der "kimmerischen Invasion" (vgl. How u. Wells 1957, 60-62). Wenn man aber diese Redewendung "aus Asien" nicht bloß als "aus dem erweiterten Umfeld von Lydien" deuten will, stellen sich automatisch die Fragen nach den Grenzen Asiens bzw. Europas und nach den geopolitischen Verhältnissen in Kleinasien zur Zeit des Alyattes im allgemeinen. Nur wenn diese Fragen beantwortet sind, kann definitiv über die Richtung diskutiert werden, in welche die Kimmerier geflohen sein müssen, wenn sie "Asien" verlassen haben.


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