1 Einleitung

Der Umstand, daß sich hier ein Vor- und Frühgeschichtler mit den Kimmeriern beschäftigt, scheint nach einer Erklärung zu verlangen. Zieht man etwa den ausführlichen Artikel von C.F. Lehmann-Haupt zum Stichwort "Kimmerier" in "Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft" aus dem Jahr 1921 zu Rate, so findet man dort zwar eine umfangreiche Zusammenstellung und Erörterung schriftlicher Quellen, die Auskünfte über die Geschichte der Kimmerier geben sollen (Lehmann-Haupt 1921), aber keinen Hinweis darauf, daß mit den Kimmeriern auch Probleme verbunden werden, deren Lösung die Aufgabe der Wissenschaft ist, die im allgemeinen "Vor- und Frühgeschichte" genannt wird. Dabei versteht man unter Frühgeschichte nach der von H.J. Eggers gegebenen Definition "die Zeiträume ..., auf die schon das erste Licht schriftlicher Quellen fällt, aber doch den archäologischen Quellen immer noch entscheidende Bedeutung zukommt" (Eggers 1986, 14), womit Vorgeschichte durch das Fehlen jeglicher schriftlicher Quellen definiert wird. Daraus ergibt sich, daß der wesentliche Unterschied zwischen den historischen Wissenschaften "Geschichte" und "Vor- und Frühgeschichte" nicht im Ziel - jeweils der Rekonstruktion menschlicher Vergangenheit -, sondern in den unterschiedlichen Methoden zu suchen ist, die durch die zur Verfügung stehenden Quellen - nämlich einerseits schriftliche Zeugnisse und andererseits archäologische Funde - bestimmt werden (vgl. dazu Eggers 1950, 50.51; 1986, 16.17; Lichardus u. Lichardus-Itten 1995, 36).

Erst vor kurzem wiesen J. Lichardus und J. Vladár nochmals darauf hin, daß eine Kombination von schriftlichen Berichten mit archäologischen Funden die methodische Grundlage für die Behandlung des Problems des historischen Nachweises von Bevölkerungsverschiebungen - speziell derer aus den Wolga-Ural-Steppen bis in das Karpatenbecken - bietet und eine Ausgangsbasis für die Auswertung archäologischer Quellen aus Zeiten sein kann, in denen Schriftquellen noch nicht existierten oder zumindest nicht erhalten blieben (Lichardus u. Vladár 1996, 49). Sie verwiesen dabei auf die Arbeit von C. Bálint, die sich mit Problemen aus der sarmatischen, der hunnischen, der awarischen und der magyarischen Periode beschäftigt hat (Bálint 1989). Nun bezeichnete schon F. Hancar die Kimmerier als das erste Volk Osteuropas, das von den Griechen und den Assyrern durch deren schriftliche Überlieferung aus dem Dunkel seines vorgeschichtlichen Daseins herausgehoben wurde, wobei er vor allem auf Herodot verwies, welcher die Kimmerier als unmittelbar vorskythischeBevölkerung der pontischen Steppengebiete angegeben hatte (F. Hancar 1951, 45.46). Die Beschäftigung mit der Geschichte der Kimmerier wäre also - jedenfalls im Sinne der oben zitierten Definition von Eggers - eine frühgeschichtliche Forschungsarbeit, "die ihren besonderen Reiz in jenem abwechslungsreichen Mühen besitzt, namenlose urgeschichtliche Kulturträger mit solchen urgeschichtlichen Völkern zu identifizieren, die, vom Streiflicht nachbarlicher Hochkulturen getroffen, in deren schriftlicher Überlieferung namentragend erscheinen" (so F. Hancar 1951, 45). Wer allerdings aus dieser Feststellung schließt, daß die Forschung sich immer auf diese durchaus legitim erscheinende Methode - nach sorgfältiger Ausarbeitung einer "archäologischen Kultur" zu versuchen, diese mit aus literarischen Quellen bekannten Namen zu verbinden - konzentriert, sieht sich getäuscht. Die Untersuchungen, die sich mit den Kimmeriern beschäftigten, gingen zumeist den umgekehrten Weg, indem von den schriftlichen Quellen ausgehend versucht wurde, in den Schwarzmeersteppen eine entsprechende archäologische Kultur zu identifizieren. Hierbei besteht - deutlich beeinflußt von der durch schriftliche Quellen überlieferten Ansicht, daß die Kimmerier von den Skythen aus ihren Siedlungsgebieten am Schwarzen Meer verdrängt wurden - in der Forschung fast vollständige Einigkeit 2 über das "vorskythische" Alter der postulierten kimmerischen Kultur im pontischen Raum. Ein aus assyrischen Quellen gewonnenes Datum am Ende des achten Jahrhunderts v. Chr. für ein mutmaßlich erstes Auftreten von Kimmeriern in Vorderasien scheint zudem einen terminus ante quem für die Abwanderung der Kimmerier aus ihren angenommenen Siedlungsräumen nördlich des Schwarzen Meeres zu liefern. Eine derartige zeitliche Einordnung würde es erlauben, diese durch die Skythen veranlaßte "kimmerische Wanderung" zumindest chronologisch mit dem Ausklang der mitteleuropäischen Urnenfelderzeit in Zusammenhang zu bringen. Diese Verbindung wurde nun aber zum Dreh- und Angelpunkt einer Theorie, welche die Ursache eines den Übergang von der späten Bronzezeit zur frühen Eisenzeit Mitteleuropas kennzeichnenden Hortfundhorizonts im dortigen Auftauchen von Kimmeriern sieht, auch wenn weder Herodot selbst noch ein anderer antiker Schriftsteller auch nur eine Andeutung oder gar einen Beweis für eine Wanderung von Kimmeriern nach Südost- oder gar Mitteleuropa geliefert hat.

Ausgehend davon, daß der durch die Skythen erzwungene Abzug der Kimmerier eine feststehende Tatsache sei, äußerte zum Beispiel K. Bittel, daß die Möglichkeit einer westlichen Abwanderung von Teilen der Kimmerier nicht geleugnet werden könne (Bittel 1942, 59). B.A. Sramko meinte sogar, daß unter dem Druck der Skythen "der größte Teil der Kimmerier nach Norden, in das Waldsteppengebiet" gewandert sei (Sramko 1993, 58). Für M. Egg und Chr. Pare, um noch ein weiteres Beispiel zu nennen, schienen sowohl die nordpontische Herkunft der Kimmerier als auch deren nach Westen gerichtete Vorstöße ein Faktum zu sein (vgl. Egg u. Pare 1995, Karten 7-9).

Wenn allerdings die vielfach behauptete Bestätigung einer kimmerischen Westwanderung durch die Schriftquellen nicht existiert, muß auch gefragt werden, ob die angeführten archäologischen Beweise einer Prüfung standhalten. R. Werner behauptete, daß "Grund dieser kimmerischen Wanderung ... nach dem Bericht des Herodot und dem archäologischen Befund das Vordringen der Skythen nach Westen" war (R. Werner 1961, 129). Archäologisch ließe sich eine Verdrängung der Kimmerier durch die Skythen jedoch allein durch einen deutlichen Wandel in den Überresten der materiellen Kulturen in den entsprechenden Gebieten nachweisen. Dieser Nachweis wird aber durch den Umstand erschwert, daß Kimmerier unter den archäologischen Kulturgruppen in den nordpontischen Gebieten - nach Aussage der schriftlichen Quellen doch ihre ursprüngliche Heimat - nicht eindeutig identifiziert werden können (Leskov 1974, 46; Rolle 1977, 309). So meinte beispielsweise R. Rolle, daß "die Erkennungsmöglichkeiten eindeutig kimmerischen Fundmaterials im Ausgangsgebiet des Kimmerierzuges, dem nördlichen Schwarzmeergebiet, bisher erschwert" würden (Rolle 1977, 306). Ähnlich urteilten auch A.A. Jessen oder R. Werner, die beide keine Möglichkeit sahen, bestimmte Bodenfunde speziell den Kimmeriern zuzuordnen (vgl. Jessen 1953, 75; R. Werner 1961, 129). Die Erklärung, welche K. Jettmar für die bei der Trennung von "skythischem" und "kimmerischem" Fundmaterial auftretenden Schwierigkeiten anbot - nämlich daß "die Skythen der Frühzeit ... ein durchaus thrako-kimmerisch anmutendes Kulturgepräge gehabt haben" müssen (Jettmar 1966a, 18) - ist hierbei wenig befriedigend, weil sie eine klare Differenzierung zwischen Kimmeriern und zumindest "frühen" Skythen mittels archäologischer Quellen geradezu prinzipiell ausschließt.


 

Abb. 1: Einfallsrichtungen von Kimmeriern und Skythen in den Vorderen Orient

Abb. 1: Einfallsrichtungen von Kimmeriern und Skythen in den Vorderen Orient.
Gestrichelt: Kimmerier; gepunktet: Skythen (nach Krupnov 1960, Abb. 4).

Diese unbefriedigende Quellenlage ist jedoch nicht auf das nordpontische Gebiet beschränkt. Zwar gibt es sogar Ansätze, die von Kimmeriern und Skythen gewählten Wege in den Vorderen Orient unter Angabe der genauen Marschrouten zu rekonstruieren (vgl. Abb. 1), aber derartige Versuche beruhen letztendlich allein auf den aus schriftlichen Quellen gewonnenen Angaben. Es ist zu betonen, daß sich Kimmerier weder in Kleinasien nachweisen lassen, noch daß es archäologische Beweise für den von Herodot behaupteten Durchzug durch Transkaukasien gibt (Orthmann 1995, 28) 3. K. Bittel urteilte, daß "kimmerische Funde" - außer ganz wenigen, sehr zweifelhaften Stücken - in Kleinasien "noch nicht" bekannt wären: Wirkung und Reaktion könnten daher nur am einheimischen Material abgelesen werden (Bittel 1952, 92). Inwieweit sich diese am einheimischen Material zeigenden Wirkungen allerdings eindeutig als Reaktion auf - wie auch immer geartete - Kontakte speziell mit den Kimmeriern zurückführen lassen, läßt sich aber kaum bestimmen. Angesichts der Schwierigkeiten, materielle Überreste der Kimmerier in ihrer angeblichen nordpontischen Heimat zweifelsfrei zu identifizieren, dürfte es kaum möglich sein, im einheimischen kleinasiatischen Material Reaktionen auf ihre Anwesenheit abzulesen. Vielmehr dürften die angesprochenen Wirkungen sich nur dazu eignen, Beziehungen zu Gruppen nachzuweisen, die allgemein einem reiternomadischen Milieu zuzuordnen sind. Ähnlich äußerte sich N.K. Sandars in ihrer Beurteilung zur Verbreitung der Kenntnis der Eisenbearbeitung, bestimmter Formen von Pferdegeschirr und sogenannter "orientalisierender" Bronzegegenstände. Es ist nach Meinung Sandars’ zweifellos korrekt, deren Ausgangspunkt in Ostanatolien, dem westlichen Iran und Transkaukasien zu suchen, von wo sie sich verbreitet hätten; auch hielt es Sandars durchaus für "möglich", daß diese "in den Satteltaschen von eindringenden Reiternomaden nach Europa" gelangten, aber sie konnte keinen Grund erkennen, warum man diese Reiter unbedingt Kimmerier nennen sollte (Sandars 1971, 873.874).

Einerseits lassen sich selbst in den Landschaften, die durch schriftliche Zeugnisse mit Kimmeriern in Verbindung gebracht werden können - etwa im nordpontischen Gebiet und in Kleinasien - keine Funde eindeutig den Kimmeriern zuordnen, andererseits aber werden selbst außerhalb dieser Bereiche zahlreiche Gegenstände dennoch mit den Kimmeriern in Verbindung gebracht. Die ursprünglich angenommene Verbreitung dieser Gegenstände in einem Gebiet, das von Thrakern bewohnt gewesen sein soll, führte dazu, daß neben der Bezeichnung "kimmerisch" für diese Gegenstände auch von "thrako-kimmerisch" gesprochen wurde, wobei aber J.A.H. Potratz - gewiß nicht ganz zu Unrecht - anmerkte, daß es kaum einzusehen ist, "warum man auf eine Unterteilungsmöglichkeit zwischen den räumlich getrennt wohnenden Völkern der Thraker und der Kimmerier verzichten sollte" und die Namensbildung "Thrako-Kimmerier" als künstliche Prägung abqualifizierte (Potratz 1963, 88). Die Übertragungen von aus schriftlichen Quellen bekannten Namen auf archäologische Fundkomplexe gipfelten jedoch - anstatt sich um eine differenziertere Betrachtungsweise zu bemühen - bislang in Formulierungen wie "thrako-kimmerisch sowie skythisch-sarmatisch" oder "skythisch-kimmerisch" (so Abramischwili 1995, 37.38), die Thraker, Kimmerier, Skythen und Sarmaten als kaum oder womöglich überhaupt nicht zu trennende Bestandteile einer "ephemeren politischen Vereinigung" erscheinen lassen (vgl. Abramischwili 1995, 38).

Weil Herodot die früheste Erwähnung von Kimmeriern in einem größeren Zusammenhang bietet, wird seiner Überlieferung in dieser Untersuchung ein besonders breiter Raum eingeräumt. Die nach Themen getrennte Analyse der Überlieferung des Herodot führt dabei zwar dazu, daß einzelne Fragestellungen mehrfach angesprochen werden müssen 4, aber gerade die sich daraus ergebenden Rückkopplungen versprechen Möglichkeiten zur Überprüfung der aus Angaben des Herodot entwickelten "inneren Chronologie". Das aus den herodotischen Berichten gewonnene Bild soll dann sukzessive durch Zufügen "fremder" Daten und der Behandlung peripherer Fragestellungen überprüft oder ergänzt werden. Dabei soll jedoch versucht werden, die einzelnen Quellen schriftlicher Überlieferung nach Möglichkeit getrennt zu beurteilen, da diesen oft unterschiedlicher Aussagewert zugewiesen werden muß.

J.A. Scurlock beschrieb die Entwicklung der Erforschung der frühen Geschichte der Meder so, daß bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts die alten griechischen Historiker die einzigen Informationsquellen gewesen seien 5; mit der Entdeckung und Entschlüsselung der Keilschrifttexte seien dann aber weitere Quellen erschlossen worden, deren zusätzliche Informationen es ermöglichten, das aus den klassischen Autoren geschaffene Bild abzurunden (Scurlock 1990, 150). Diese Beschreibung, die man auf die Erforschung der Geschichte ganz Kleinasiens ausdehnen kann, läßt den Eindruck aufkommen, daß allein mit Hilfe der griechischen Historiker - und damit vor allem des Herodot - bereits ein ausreichender chronologischer Rahmen geschaffen werden kann, und die Einbeziehung von Daten, die aus vorderasiatischen Quellen gewonnen werden können, nur der zusätzlichen Verankerung und Ausfüllung dieses Rahmens dient. Dieser Eindruck wird aber schnell wieder verwischt. Scurlock schrieb ebenso von einer Beschädigung der Glaubwürdigkeit des Herodot durch die erfolglosen Versuche, herodotische Angaben und assyrische Daten miteinander zu synchronisieren (Scurlock 1990, 151) und von Ansätzen, zumindest Teile der aus den Angaben des Herodot abgeleiteten Chronologie gänzlich zu verwerfen (Scurlock 1990, 153.154). Da gleichwohl auch die neu erschlossenen Quellen des Vorderen Orients allein nicht dazu befähigen, die Geschichte Kleinasiens und sonstiger Randgebiete der assyrischen und babylonischen Interessensphären ausreichend zu rekonstruieren, erscheint das oben genannte Verfahren - von einer Analyse der Angaben des Herodot auszugehen - dennoch als das erfolgversprechendste.


2 Erst kürzlich äußerte S. Tohtasjev, daß "in der neueren Historiographie die Meinung vorherrschend [ist], daß die antike Überlieferung, nach der die Kimmerier als Vorläufer der Skythen im nördlichen Schwarzmeergebiet angesehen werden, völlig glaubwürdig ist" (Tohtasjev 1996, 10.11).
3 Allerdings ist zu bedenken, daß sich auch in "historischer" Zeit stattgefundene Völkerwanderungen im Kaukasus-Gebiet kaum archäologisch belegen lassen. Der Umstand, daß "sich hier die durch die verschiedenen Völkerwanderungen ausgelösten Veränderungen nur indirekt abzeichnen", veranlaßte etwa C. Bálint zu der Annahme, daß diese "vielleicht jeweils nur ein Intermezzo im Leben der heterogenen, aber autochthonen Bevölkerung des »Hohen Berges« darstellen" (Bálint 1989, 22).
4 Dadurch kommt es auch dazu, daß einzelne von Herodot benutzte Quellen mehrfach erörtert werden müssen. Dabei soll der Schwerpunkt der Quellenkritik in dem Teilbereich liegen, in dem diese Quelle von Herodot auch am intensivsten genutzt scheint.
5 Es muß hier deutlich auf die Tatsache hingewiesen werden, daß in Griechenland die Archaische Periode kein geschichtlicher - wie es etwa H.-J. Eggers behauptete (Eggers 1986, 153) - sondern noch ein frühgeschichtlicher Abschnitt ist. Dieses Zeitalter kann nicht ausreichend durch zeitgenössische historische Werke erleuchtet werden. Erst eine Verbindung von archäologischen Erkenntnissen, Hinweisen auf historische Ereignisse in der noch ausschließlich poetischen zeitgenössischen Literatur und von Referenzen auf dieses Gebiet in historischen Dokumenten aus angrenzenden, fortschrittlicheren Regionen wie Assyrien, kann in dieses "dunkle Zeitalter" der griechischen Geschichte Licht bringen.


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