2.3 Das Problem der "ethnischen Deutung"

Im selben Aufsatz, in dem sich C. Metzner-Nebelsick im Titel fragte, ob "Abschied von den »Thrako-Kimmeriern«" genommen werden müsse, stellte sie außerdem die Frage, "ob es anhand des archäologischen Fundstoffs überhaupt möglich ist, Einwanderungen fremder Bevölkerungsteile stichhaltig nachzuweisen" (Metzner-Nebelsick 1998, 361). Die "besondere Dringlichkeit", mit der sich "die Frage nach dem archäologischen Nachweis von Nomadenbewegungen und/oder Kulturaustausch zwischen dem Karpatenbecken und der osteuropäischen Steppe stellt", begründete Metzner-Nebelsick hierbei mit den in schriftlichen Quellen - speziell aber von Herodot - berichteten "historischen Ereignissen": der Vertreibung der Kimmerier aus ihrer ursprünglichen Heimat durch die Skythen und den Einfällen jener Völker in Klein- und Vorderasien. A. Ivancik kam in der Einleitung seines "Das Problem der ethnischen Zugehörigkeit der Kimmerier und die kimmerische archäologische Kultur" betitelten Aufsatzes beim Versuch, die "ethnische und sprachliche Zugehörigkeit der Kimmerier ... anhand der linguistischen Angaben" zu klären, zu dem Ergebnis einer "kulturellen Ähnlichkeit der Kimmerier und Skythen", weshalb er im folgenden das "Problem der kimmerischen archäologischen Kultur" in den Mittelpunkt seiner Studie stellte. Ausgangspunkt dieser Untersuchung war die Behauptung, daß "die Feststellung einer Beziehung zwischen dem Terminus »Kimmerier«, der ein konkretes, in schriftlichen Quellen beschriebenes Volk bezeichnet, und den archäologischen Funden ... nur nach einem ausführlichen Studium der Quellen möglich" ist, wobei Ivancik gleichzeitig darauf hinwies, daß "eine solche Untersuchung ... natürlich nicht Aufgabe von Archäologen sein" kann (Ivancik 1997,13.14).

Schon seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts stand der Vorgeschichtsforschung die Beantwortung von zwei Fragen als Ziel vor Augen, die H.J. Eggers in seiner "Einführung in die Vorgeschichte" folgendermaßen formulierte: "die Frage nach dem Alter der prähistorischen Funde, also die Chronologie, und die Frage nach ihrer Volkszugehörigkeit, also die ethnische Deutung" (Eggers 1986, 199). Der erste Versuch, archäologische Funde dem aus schriftlichen Quellen bekannten Volk der Kimmerier zuzuweisen, wurde - wie bereits erwähnt - von D.J. Samokwassow schon im Jahre 1888 unternommen, und seit damals riß die Reihe weiterer Versuche nicht ab. Deshalb scheint es angezeigt, sich an dieser Stelle mit den bei diesen "ethnischen Deutungen" angewandten Methoden zu beschäftigen, wobei auf den Begriff "Ethnos" selbst und seine Verwendung in der Vor- und Frühgeschichtsforschung allerdings nicht näher eingegangen werden kann 32.

Die Frage nach dem Alter der prähistorischen Funde führte zunächst zu der Unterscheidung zwischen "relativer" und "absoluter" Chronologie, die bereits der schwedische Prähistoriker O. Montelius voneinander abgrenzte. Er erklärte, daß "die »relative Chronologie« die Frage ... [beantwortet], ob jener Gegenstand älter oder jünger als andere Gegenstände ist. Die »absolute Chronologie« zeigt uns, aus welchem Jahrhundert vor oder nach Christi Geburt jener Gegenstand stammt" (Montelius 1903, 1). Es war auch Montelius, der durch die Entwicklung bzw. zumindest zielgerichteter Anwendung der typologischen und stratigraphischen Methoden dann den Archäologen die Werkzeuge zur Beantwortung der Frage nach der relativen Chronologie in die Hand gab (Eggers 1986, 88-105; Bernbeck 1997, 26). Als Grundlage der typologischen Methode bezeichnete W. Angeli, daß "die prähistorische Typologie ... sich auf bestimmte ausgewählte Merkmale [stützt], die ihre Objekte von einander unterscheidbar machen. Typen im Sinne der prähistorischen Archäologie werden in Hinblick auf ihre distinktive Funktion gebildet. Übereinstimmung der in dieser Hinsicht als wesentlich erkannten Merkmale in der Anlage ... stiftet Zusammengehörigkeit" (Angeli 1997, 23; vgl. auch Bernbeck 1997, 206-230).

Während heute auch naturwissenschaftliche Methoden Möglichkeiten zur Bestimmung des absoluten Alters eines prähistorischen Gegenstandes bieten, war lange Zeit die Ermittlung absoluter Daten nur mittels der sogenannten "archäologisch-historischen" Methode möglich. Als Voraussetzungen dieser Methode gab Montelius an, daß "die absolute Chronologie einer gewissen Periode in einem Lande ... aber nur möglich [ist], falls jene Periode gleichzeitig mit einer geschichtlich bekannten Periode in einem anderen Lande ist, und falls beide Länder damals in direkter oder indirekter Verbindung miteinander standen" (Montelius 1903, 1). Es wird also versucht, Funde aus "vorgeschichtlichen" Gebieten mit Gegenständen in Verbindung zu bringen, die aus "geschichtlichen" Räumen stammen. Ausgehend von diesen vergleichbaren Funden folgert man im Analogieschluß dann auf die Gleichzeitigkeit der sie repräsentierenden Typen im gesamten Verbreitungsgebiet (vgl. Angeli 1997, 24). Angesichts der Benennung dieser Methode als "archäologisch-historisch" sei nochmals darauf hingewiesen, daß der Unterschied zwischen den Wissenschaften "Geschichte" und "Vor- und Frühgeschichte" nicht im Ziel - der Rekonstruktion menschlicher Vergangenheit -, sondern hauptsächlich in den unterschiedlichen Methoden zu suchen ist, die sich durch die zur Verfügung stehenden Quellen erklären lassen.

Auch auf die Frage nach der "ethnische Deutung" prähistorischer Funde werden Antworten durch die Verknüpfung von "archäologischen" mit "historischen" Methoden gesucht. So nannte G. Kossinna als Grundlage seiner "siedlungsarchäologischen Methode", daß "diese Methode ... sich des Analogieschlußes [bedient], insofern sie die Erhellung uralter, dunkler Zeiten durch Rückschlüsse aus der klaren Gegenwart oder aus zwar ebenfalls noch alten, jedoch durch reiche Überlieferung ausgezeichneten Epochen vornimmt. Sie erhellt vorgeschichtliche Zeiten durch solche, die in geschichtlichem Lichte stehen" (Kossinna 1920, 2.3). Kernsatz der Methode Kossinnas war aber eine Aussage, die sich unmittelbar auf die "ethnische Deutung" vorgeschichtlicher Funde bezog: "Scharf umgrenzte archäologische Kulturprovinzen decken sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern oder Völkerstämmen" (Kossinna 1920, 3). Daraus ergab sich die Auffassung, daß "aus der Verbreitung und Entwicklung von Kulturen auf Völkerausbreitung" geschlossen werden könne und somit auch allein mittels archäologischer Hinterlassenschaften "Völkerumsiedlungen" nachweisbar seien. Somit führte Kossinnas Ansatz in methodischer Hinsicht "erstmals zur expliziten Formulierung des Begriffs der archäologischen Kultur" (so Bernbeck 1997, 29), wobei sich aber in keiner der Schriften Kossinnas eine Definition findet, was unter einer "archäologischen Kulturprovinz" zu verstehen ist, und auch der Begriff der "Kultur" wurde von Kossinna selbst unreflektiert verwandt (vgl. Adler 1987, 34.36).

E. Wahle unterzog im Jahre 1941 diese Methode Kossinnas in seiner Abhandlung "Zur ethnischen Deutung frühgeschichtlicher Kulturprovinzen" einer eingehenden Prüfung. Dabei versäumte er auch nicht, darauf hinzuweisen, daß Kossinna nicht der erste war, der die Frage nach der ethnischen Zugehörigkeit von Funden zu beantworten suchte, sondern nur als erster "Verfahren ... der ethnischen Deutung von Kulturprovinzen ... in größerem Umfang angewendet hat" (Wahle 1952, 47.48). Desweiteren gelang es Wahle, mehrere Beispiele anzuführen, anhand derer er das Versagen der methodischen Grundsätze Kossinnas belegte. Dennoch unterstrich auch Wahle die Bedeutung der Frage nach der ethnischen Deutung eines Fundes oder einer Fundgruppe und stellte sogar fest, daß wenn "das Fach auf ihre Beantwortung keinen Wert legen [wollte], ... es sich selbst aufgeben [würde], denn es steht hier vor einem seiner ersten und letzten Probleme" (Wahle 1952, 48).

Bei der Suche nach den "grundsätzlichen Fehlern des Kossinnaschen Systems" gelangte H.J. Eggers zu der Frage, worin der Unterschied zwischen "Urgeschichte" und "Geschichte" besteht. Angesichts der nachgewiesenen Mängel der Methode Kossinnas stellte er sogar provokativ die Fragen, ob "sich mit Hilfe der Bodenurkunden die Geschichte »nach rückwärts verlängern«" läßt und ob "Bodenurkunden als historische Urkunden verwertbar" sind (Eggers 1950, 50). Hierbei setzte Eggers "stillschweigend" voraus, daß "die »eigentliche« Geschichtsforschung sich anderer Zeugnisse bedient, nämlich geschriebener Urkunden" und betonte, daß "der Gegensatz von Urgeschichtsforschung und Geschichtsforschung (im engeren Sinne!) nicht im Wesen des Forschungsobjektes begründet ist", sondern lediglich "eine rein praktische Arbeitsteilung auf Grund völlig verschiedenartigen Quellenstoffes und daraus sich ergebender andersartiger Methoden" festzustellen ist. Akzeptiert man Eggers Unterscheidung von "Urgeschichte" und "eigentlicher Geschichte" anhand der unterschiedlichen Quellenarten, drängt sich die Frage nach dem Quellenbegriff der "eigentlichen" Historiker auf.

In seiner "Einführung in die historischen Hilfswissenschaften" bezeichnete A. v. Brandt als "Quellen ... alle Texte, Gegenstände oder Tatsachen, aus denen Kenntnis der Vergangenheit gewonnen werden kann" und betonte, daß die Definition "alle denkbaren Quellenkategorien" erfasse (Brandt 1989, 48). Gerade die Universalität dieser Definition machte jedoch eine Untergliederung des Quellenmaterials unumgänglich, bei der Brandt auf eine auf J.G. Droysen zurückgehende Trennung nach "inneren Eigenschaften" zurückgriff. Davon ausgehend, daß eine Quelle entweder "unbewußt-unabsichtlich" oder "absichtlich" Zeugnis von historischen Ereignissen ablege, unterschied Droysen zwischen sogenannten "Überresten" und "zur Erinnerung bestimmten Quellen". Brandt schlug allerdings vor, für die zweite Quellengruppe den von E. Bernstein eingeführten Terminus "Tradition" zu verwenden. Für den Prähistoriker ist hierbei die Gruppe der "Überreste" von besonderem Interesse, weil nach der Definition Brandts zu ihnen außer "schriftlichen Überresten" und den sogenannten "abstrakten Überresten" auch die "Sachüberreste" gehören, zu denen letztendlich auch die Bodenfunde zu zählen sind (Brandt 1989, 53.56).

Als spezifisches Kriterium der Überreste hatte Brandt zunächst nur angegeben, daß diese unbewußt-unabsichtlich Zeugnis von historischen Ereignissen ablegen. Anschließend präzisierte er aber sowohl sein Verständnis des Wortes "unabsichtlich" als auch den Begriff "Überrest" als solchen. Er erklärte, daß "uns jede Quelle [unabsichtlich dient], die, »unmittelbar von den Begebenheiten übrigblieben«, in ihrer Entstehung nicht den Zweck historischer Unterrichtung der Mit- und Nachwelt verfolgt, sondern entweder aus anderer Zielsetzung oder zweckfrei entstanden ist" (Brandt 1989, 53), wobei "wir [unter Überresten] nach unserer Definition alles dasjenige Quellenmaterial zu verstehen [haben], das von den Geschehnissen unmittelbar - also ohne das Medium eines zum Zweck historischer Kenntnis berichtenden Vermittlers - übriggeblieben ist" (Brandt 1989, 56). Aus dem Umstand, daß Überreste unabsichtlich historische Kenntnis vermitteln und sozusagen "unwissentlich" als Quelle dienen, ergibt sich der Vorteil für den Historiker, daß ihnen "in diesem Sinne keine »Tendenz« innenwohnen kann" (so Brandt 1989, 57). Brandt machte aber darauf aufmerksam, daß die Nachteile der Überreste als historische Quellen auf den gleichen Umständen beruhen wie ihre Vorteile, weil "jeder Überrest ... nur auf seinen bestimmten Gegenwartszweck zugeschnitten [ist], er ... sich nur auf diesen Fall [bezieht] und ... sich nur, soweit es der Zweck erfordert, über ihn ... [ausläßt]. Er ist nicht dazu qualifiziert, alle Zusammenhänge aufzuzeigen, etwa »historische« Vollständigkeit anzustreben, will ja nicht historisch unterrichten. Das heißt, daß der Benutzer jeweils zunächst fragen muß, welche Funktion der Überrest in seiner Gegenwart hatte. Erst daraus kann er schließen, welche Nachrichten er erwarten darf - ob es nämlich für den Gegenwartszweck erforderlich war, daß der gesuchte Umstand in der Quelle mitgeteilt wird. Noch weniger als bei anderen Quellen darf der Historiker daher beim Überrest den Schluß ex silentio ziehen: »weil die Quelle etwas nicht bezeugt, hat es dieses Etwas nicht gegeben«" (Brandt 1989, 58).

Die Erkenntnis der Historiker, daß keine schriftliche Quelle, also auch nicht eine zu den "Überresten" gehörende, wirklich objektiv ist, konnte H.J. Eggers ohne Einschränkung auch auf die Quellen der vorgeschichtlichen Archäologie, also die Bodenfunde, übertragen. In der Mißachtung bzw. im Fehlen dieser Feststellung erkannte Eggers einen der Irrtümer Kossinnas, weil dieser "sich offenbar in dem Glauben [wiegte], daß vorgeschichtliche Funde, also die »Bodenurkunden«, unverfälschte objektive Quellen wären, die jeder bewußten Tendenz entbehrten" (Eggers 1986, 257). Bedenkt man weiterhin, daß für die Zeiten, in denen archäologische und literarische Quellen zur Verfügung stehen, diese verschiedenartige Tendenzen haben können, so offenbart sich aber - so das Urteil Eggers - "Kossinnas verhängnisvollster Denkfehler": dieser sah es scheinbar als selbstverständlich an, daß archäologische und literarische Quellen immer genau die gleiche Aussage über ein historisches Ereignis oder über einen historischen Zustand machen müssen. Eggers indes stellte klar, daß geschriebene Urkunden und Bodenurkunden beide als historische Quellen benutzbar sind, aber nicht immer denselben Sektor aus der Gesamtheit der historischen Ereignisse und Zustände beleuchten. Als "Kardinalfehler" Kossinnas schließlich bezeichnete Eggers dessen Bestreben, archäologische Quellen einzig "ethnisch" auszulegen, weil diese "ethnische Deutung" lediglich eine unter vielen Möglichkeiten ist, Bodenurkunden "historisch" zu interpretieren. Eine bestimmte Gruppe von Funden kann nämlich ebenso der Niederschlag einer Religionsgemeinschaft, von Handelsbeziehungen, eines Krieges oder eines Brauchtums sein (vgl. Eggers 1986, 271-275).

Der Vorschlag Eggers', von "historischer" Deutung der Bodenfunde zu sprechen und die "ethnische" Deutung nur als eine von vielen Möglichkeiten anzusehen, veranlaßte R. Wenskus zu den Einwand, daß "die Schwierigkeit damit jedoch nur noch größer geworden [ist], denn keiner vermag die Kriterien anzugeben, nach denen im Einzelfall entschieden werden könnte, um welche Möglichkeit es sich handelt" (Wenskus 1961, 114.115). Zugleich verwies Wenskus auf die sich durch diese Erschwernis verschärfte "Forderung nach einer sauberen Methode", indem vor der Verknüpfung mit Ergebnissen anderer Wissenschaften zuvörderst die Erkenntnismöglichkeiten des eigenen Faches und der eigenen Quellen ausgeschöpft werden sollten, "weil es sich gezeigt hat, daß aus Nachbarwissenschaften stammende Argumente häufig zu Zirkelschlüssen und Widersprüchen führten". Zur Verknüpfung von Argumenten, die teils aus archäologischen und teils aus literarischen Quellen gewonnen wurden, äußerte sich R. Hachmann sogar noch wesentlich deutlicher: "Jede »gemischte« Argumentation muß selbst bei exemplarischem Vorgehen zu einem im ganzen unbrauchbaren Ergebnis führen! Der Archäologe muß wissen, daß er seine Quellen nur mit den ihnen adäquaten Methoden bearbeiten darf. Er muß ferner wissen, daß bei der Auswertung archäologischer Quellen nur »archäologische« Argumente gelten dürfen. ... Aber ebenso muß der Historiker wissen, daß seine Quellen, will er sie auswerten, ihre eigenen Methoden verlangen. Wehe dem Historiker, der mangels geeigneter historischer »Beweise« nach der Archäologie greift und sich dort seine Argumente sucht" (Hachmann 1970, 11).

Aus der Forderung, vor der Verknüpfung von Ergebnissen unterschiedlicher Wissenschaften immer zuerst die Erkenntnismöglichkeiten jeder einzelnen Disziplin und der jeweiligen Quellen einzeln auszuschöpfen, muß die Frage nach den Möglichkeiten des Faches Vor- und Frühgeschichte und seiner Quellen hinsichtlich "historischer" Erkenntnis abgeleitet werden. Bezüglich historischer Aussagefähigkeit archäologischer Quellen äußerte sich der Historiker A. v. Brandt in seiner "Einführung in die historischen Hilfswissenschaften" so, daß "in der Regel allein die schriftlichen Quellen uns die kontinuierliche Beobachtung und Feststellung geschichtlicher Vorgänge ermöglichen, während die nichtschriftlichen Quellen vorwiegend nur die Erkenntnis historischer Zustände ermöglichen. Es ist klar, daß die Behauptung nur a potiori, nur als überwiegendes Ergebnis der Praxis angesehen werden kann, aber nicht den Wert eines »Gesetzes« hat. Bei sehr massenhaft erhaltenen und chronologisch sehr dicht gestreuten »gegenständlichen« Quellen lassen sich nämlich sehr wohl auch Entwicklungsvorgänge, nicht nur Zustände erfassen. Mit Hilfe reichlichen archäologischen Materials würden z.B. Kriegs- und Wanderungsvorgänge nicht nur in ihrem äußeren, chronologischen Ablauf, sondern möglicherweise auch in ihren Beweggründen ausreichend erfaßbar sein" (Brandt 1989, 50). Diese Einschätzung der Aussagefähigkeit archäologischer Quellen durch Brandt erinnert durchaus an die "siedlungsarchäologische Methode" Kossinnas, die jener so beschrieb: "Mit Hilfe einer methodischen Siedlungsarchäologie vermögen wir zu erkennen, wie sich die durch Kulturgruppen dargestellten Stämme und Völker Mitteleuropas in den verschiedenen Perioden in ihrem Umfange jeweils ausdehnen und vermehren oder zusammenziehen und vermindern. Klärt uns eine genaue typologische Forschung d.h. Entwicklungsgeschichte der Typen, der Geräte, Waffen, des Schmucks, der Bestattungsweise usw. über Zusammenhänge und Gegensätze der Kulturen auf, so zeigt uns eine scharfe Handhabung der chronologischen Mittel der Archäologie, die innerhalb der gesamten Metallzeit womöglich das Jahrhundert eines Fundes oder einer Kulturgruppe bestimmen muss, wo eine Kultur in ihrem ganzen Gebiete oder wenigstens in ihrem Hauptgebiete ununterbrochene, stetige Fortsetzung findet und wo sie einen Abbruch erleidet" (Kossinna 1920, 17). Hierbei war sich auch Kossinna bewußt, daß zur erfolgreichen Anwendung dieser Methode eine ausreichende Quellenbasis notwendig ist, weshalb er außerdem erklärte, daß "Länder mit unzureichender Erforschung ... für eine gesicherte Beantwortung meiner Fragen noch nicht reif [sind]" (Kossinna 1920, 6).

Wenn hier erneut auf den methodischen Ansatz Kossinnas zurückgegriffen wird, so ist das auch auf den Umstand zurückzuführen, daß dieser bei der Erläuterung seiner "Grundsätze" einen zentralen Begriff der Vor- und Frühgeschichtsforschung ständig unreflektiert benutzte: den der "Kultur". Indem er davon sprach, daß "Kulturgebiete" zugleich auch "Volksgebiete" sind (Kossinna 1920, 4), "scharf umgrenzte archäologische Kulturprovinzen sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern oder Völkerstämmen [decken]" (Kossinna 1920, 3) sowie "Stämme und Völker" durch "Kulturgruppen" dargestellt werden (Kossinna 1920, 17), verwendete er die Termini "ethnische Einheit" und "Kultur" quasi synonym (vgl. Adler 1987, 52). Es stellt sich somit auch die Frage nach einer Definition des Begriffs der "archäologischen Kultur".

Bereits in den die "Studien zum Kulturbegriff in der Vor- und Frühgeschichtsforschung" einleitenden Worten stellte R. Hachmann fest, daß es offenbar keine eindeutige Antwort auf die Frage, was Kultur eigentlich ist, gibt, bzw. daß es keine Antwort gibt, die weit verbreitet Anerkennung gefunden hat (Hachmann 1987a, 9). In seinem "Rückblick und Ausblick" schließlich mußte Hachmann eingestehen, daß der Versuch, die "Frage nach dem Wesen des Begriffs »Kultur« dadurch zu beantworten, daß die Arbeiten einer Reihe von namhaften Vor- und Frühgeschichtsforschern daraufhin untersucht wurden, welchen Kulturbegriff sie benutzten" zu keinem befriedigenden Ergebnis führte. Vielmehr seien die gefundenen "Antworten ... unbefriedigend, teils unvollkommen, großenteils uneinheitlich und im Ganzen widersprüchlich" gewesen (Hachmann 1987b, 219). Es ist insofern erklärlich, wenn J. Lichardus und M. Lichardus-Itten den in der Vor- und Frühgeschichte benutzten Terminus der "archäologischen Kultur" nur als "Hilfsbegriff" verstanden wissen wollten, der hierbei "in Zeit und Raum zu definieren" ist und der, "unter der Voraussetzung, daß er richtig definiert ist, eine konkrete historische Gemeinschaft" umschreibt (Lichardus u. Lichardus-Itten 1995, 36; vgl. Lichardus 1991, 13). Um eine "archäologischen Kultur" zu definieren, stehen nach Lichardus und Lichardus-Itten "in der Regel ... dem Archäologen verschiedene Hinterlassenschaften menschlicher Tätigkeit zur Verfügung, die Einblick in das tägliche Leben ebenso wie in die Jenseitsvorstellungen der damaligen Gesellschaft ermöglichen". J. Lüning hat in seiner Untersuchung zum "Kulturbegriff im Neolithikum" den Begriff "Kultur" als Teil eines Systems definiert: "Die kleinste Betrachtungseinheit sind Merkmale. Eine Korrelation von Merkmalen in mehreren Objekten ergibt Typen. Eine Korrelation mehrerer Typen durch Ähnlichkeit ergibt Stile oder Formengruppen. Sind ähnliche und unähnliche Typen durch Fundverhältnisse korreliert, handelt es sich um eine Kultur" (Lüning 1972, 166). Zum Inhalt einer archäologischen Kultur zählte Lüning hierbei "die gesamten archäologisch erkennbaren Überreste und Produkte des Verhaltens und der Betätigung menschlicher Individuen und Gruppen innerhalb eines bestimmten zeitlichen und räumlichen Ausschnittes. Sie enthält also ähnliche und nichtähnliche Gegenstands- und Befundtypen und sämtliche nicht typisierten Einzelerscheinungen, die in zeitlicher und räumlicher Hinsicht korreliert sind" (Lüning 1972, 168). Insoweit muß jede einzelne archäologische Kultur in Abhängigkeit von der konkreten Quellenlage definiert werden, die somit auch unmittelbar für die Qualität der Definition verantwortlich ist (vgl. Lichardus u. Lichardus-Itten 1995, 36).

Indem einer der Kernpunkte der Definitionen zur "archäologischen Kultur" ist, daß diese "in Zeit und Raum" definiert werden müssen - innerhalb eines bestimmten zeitlichen und geographischen Raums - werden bereits die Schwierigkeiten sichtbar, die sich bei der Übertragung dieses Forschungsansatzes auf die Erforschung nomadischer Gruppen in Steppengebieten ergeben müssen. Diese Steppengebiete mit ihren riesigen Entfernungen müssen eher als Nutzungsräume denn als Siedlungsräume verstanden werden. Die geographische Abgrenzung archäologischer Kulturen in diesen "offenen Räumen" wird zudem durch die nomadische Lebens- und Wirtschaftsweise ihrer Bewohner geradezu prinzipiell erschwert (vgl. Lichardus u. Lichardus-Itten 1995, 38). Unter diesen Bedingungen können selbst Überlagerungen von unterschiedlichen Kulturen, wie es Beispiele aus der Frühgeschichte auch belegen, nicht ausgeschlossen werden (vgl. Girtler 1982, 46).

A. Ivancik stellte die "kimmerische archäologische Kultur" in den Mittelpunkt eines Aufsatzes, den er "Das Problem der ethnischen Zugehörigkeit der Kimmerier und die kimmerische archäologische Kultur" betitelt hat (Ivancik 1997). In dieser Studie äußerte Ivancik die Ansicht, daß im Unterschied zu den bisherigen Bemühungen, "die archäologische Kultur der realen Kimmerier" unter den sogenannten "vorskythischen Kulturen" der nordpontischen Steppen zu suchen, "ein ganz anderer Weg der Behandlung des Problem der Identifikation der Kimmerierkultur ... methodisch richtig zu sein" scheint. Nach Meinung Ivanciks muß die "erste Stufe der Forschung ein ausführliches Studium der mit den Kimmeriern verbundenen Quellen sein, aufgrund dessen die zweifelsfreien Lokalisationen dieses Volkes festgestellt werden. Die Untersuchungen der archäologischen Hinterlassenschaften, die aus diesen erschlossenen Gebieten der geschichtlichen Kimmerier stammen, muß dann das Problem der kimmerischen archäologischen Kultur lösen" (Ivancik 1997, 14.15). Diesem methodischen Ansatz Ivanciks, der - oberflächlich betrachtet - als richtig und als sehr erfolgversprechend erscheint, folgen allerdings Fehler sowohl bezüglich der historischen als auch der archäologischen Interpretation.

Ivancik schlug vor, die Suche nach den Überresten eines kimmerischen Aufenthalts auf Anatolien zu beschränken, "wo die schriftlichen Zeugnisse nur den Aufenthalt der Kimmerier bezeugen und nichts über einen Aufenthalt der Skythen, zumindest während der drei ersten Viertel des 7. Jahrhunderts v. Chr., erkennen lassen. Ein Aufenthalt der Skythen in Anatolien ist den keilschriftlichen Texten nicht zu entnehmen, und die klassischen Quellen erwähnen einen solchen Aufenthalt nur in späterer Zeit" (Ivancik 1997, 15). Zwar räumte Ivancik selbst ein, daß "man ... natürlich vermuten [könnte], daß außer den Skythen und Kimmeriern auch andere Gruppen der eurasischen Nomaden zu dieser Zeit im Vorderen Orient anwesend waren", nennt dann allerdings "eine solche Vermutung ... ganz spekulativ und überflüssig" (Ivancik 1997, 17). Nun sollte aber ein Historiker bei Überresten - und die Mehrzahl der Keilschrifttexte muß als "Überreste" bezeichnet werden - noch weniger als bei anderen Quellen einen Schluß ex silentio ziehen und argumentieren, daß, weil diese Quellen etwas nicht bezeugen, es dieses Etwas nicht gegeben habe (vgl. Brandt 1989, 58). So ist zu bedenken, daß eine Erwähnung von Skythen in Anatolien in Keilschrifttexten nicht unbedingt zu erwarten ist. Wenn nicht assyrische Interessen direkt oder zumindest indirekt betroffen waren, wird man vergeblich eine entsprechende Bemerkung in den assyrischen Urkunden suchen. Daß große Teile Anatoliens, so auch das lydische Reich, aber außerhalb der unmittelbaren assyrischen Interessensphäre lagen, zeigt der assyrische Bericht über eine Gesandtschaft des Gûgu von Luddi an den Hof des Assurbanipal. Zuvor hatte man in Assyrien von den Lydern anscheinend kaum Notiz genommen (vgl. Ivancik 1993, 96.257). Es kann somit zwar aus den schriftlichen Quellen abgeleitet werden, daß sich Kimmerier in Anatolien aufhielten, aber die gleichzeitige Anwesenheit von Skythen oder anderen reiternomadischen Gruppen darf nicht ausgeschlossen werden.

Ivancik konnte im von ihm erschlossenen Gebiet zu seinen Untersuchungen nur "vier Grabstätten von Steppennomaden" ermitteln 33, von denen bloß drei auch bezüglich Grab- bzw. Bestattungssitte befragt werden konnten (Ivancik 1997, 17.28). Es stellt sich somit die Frage, ob dies eine ausreichende Materialbasis zur Definition einer "archäologischen Kultur" ist, zumal sich diese Basis zudem durch den Umstand verkleinert, daß sich unter den angeführten archäologischen Fundkomplexen auch ein "Nomadengrab" aus der Nähe von Amasya befindet, das bei Raubgrabungen aufgedeckt wurde und von dem "lediglich eine Garnitur von 250 bronzenen Tüllenpfeilspitzen erhalten blieb". Allein aufgrund dieser Garnitur aber hatte Ivancik "jedoch keine Zweifel über die kulturelle Zugehörigkeit und Datierung des Grabes" (Ivancik 1997, 27.28). Ein einziges Merkmal - nämlich das Vorkommen eines speziellen Waffentyps - genügt hier also, um das ganze Grab einer bestimmten "Kultur", "der Anfangsetappe der Kelermes-Periode der frühskythischen Kultur", zuzuordnen. Mit dieser Zuordnung ist zugleich das Ergebnis der gesamten archäologischen Untersuchung vorweggenommen, weil sich alle besprochenen Komplexe nahtlos an "frühskythische" Denkmäler anbinden lassen. Nur der - aus schriftlichen Quellen erschlossene - Umstand, daß diese Komplexe aus einem nach Ansicht Ivanciks "zweifelsfrei kimmerischen Gebiet" stammen, erlaubte jenem aber diese Funde als "kimmerisch" zu identifizieren und führte insofern zu der durchaus konsequenten Folgerung, daß "im Einklang mit den indirekten Angaben der schriftlichen Quellen ... die Kimmerier derselben archäologischen Kultur an-[gehörten] wie die frühen Skythen" (Ivancik 1997, 30). Der abschließende Einwand, daß "die fast völlige Identität der archäologischen Kulturen der Kimmerier und Skythen natürlich ... nicht [bedeutet], daß sie sich ethnisch nicht unterschieden", ist vom archäologischen Standpunkt wenig zufriedenstellend, weil Ivancik erneut schriftliche Quellen bemühen mußte, um weiterhin auf einer Trennung zwischen Kimmeriern und Skythen bestehen zu können (Ivancik 1997, 53). Unklar bleibt hierbei, mittels welcher archäologischer Kriterien Ivancik "Volksgruppen" grundsätzlich unterscheiden will, wenn er unter Beibehaltung ihrer Trennung doch eine "kulturelle Ähnlichkeit der Skythen und der Kimmerier bis zur Nichtunterscheidbarkeit ihrer archäologischen Kultur" feststellte (Ivancik 1997, 15). Jedoch könnte die von Ivancik in Anatolien festgestellte "Nichtunterscheidbarkeit" von Skythen und Kimmeriern auf dem Umstand beruhen, daß er anscheinend gezielt nach Funden "skythischen" Typs gesucht hat, um kimmerische Hinterlassenschaften zu ermitteln (vgl. Ivancik 1997, 17). Das Ergebnis der Untersuchung, nämlich eine archäologische Untermauerung der aus schriftlichen Quellen abgeleiteten "ethnischen Verwandtschaft" von Kimmeriern und Skythen 34, könnte somit bereits mit dem Ausgangspunkt vorgegeben gewesen sein.


32 Vergleiche dazu aber Angeli 1991; Bergmann 1972; Brachmann 1979; Daim 1982; Girtler 1982; Wenskus 1961.
33 Bereits hier sei darauf hingewiesen, daß Ivancik anscheinend gezielt nach Funden "skythischen" Typs gesucht hat, um kimmerische Hinterlassenschaften zu finden (vgl. Ivancik 1997, 17). Zwei der vier von Ivancik aufgezählten Fundkomplexe hatte H. Hauptmann mit der Anwesenheit von Skythen in Verbindung gebracht, während er beim dritten verallgemeinernd von "Steppennomaden" sprach (Hauptmann 1983, 269).
34 Ivancik versäumte es, seine Vorstellungen einer "ethnischen Verwandtschaft" näher zu erläutern. Zu fragen bleibt deshalb, ob er mit der von ihm festgestellten "nahen Verwandtschaft" zwischen Kimmeriern und Skythen auch die normalerweise nur innerhalb eines "Ethnos" vorhandenen Verbindungen auch zwischen diesen "ethnischen Verwandten" vermutete (vgl. dazu Daim 1982, 62-64).


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