5 Die Kolonisation des Schwarzmeerraumes

Die Untersuchungen zur Überlieferung des Herodot haben unter anderem gezeigt, daß es sich bei den als Zeugen genannten Gewährsleuten überwiegend um Zeitgenossen des Herodot im weiteren Sinne des Wortes handelt. Für die Teile der herodotischen Erzählung, die Abschnitte der kleinasiatischen Geschichte behandeln, lassen sich die Quellen und vor allem die Qualität der Aussagen vergleichsweise einfach klären. Dahingegen bereiten im Rahmen dieser Untersuchung die Erzählungen, die Gebiete nördlich des Schwarzen Meeres betreffen, deutlich mehr Schwierigkeiten, zumal ein zentraler Punkt die behauptete Herkunft der Kimmerier aus Gebieten nördlich des Schwarzen Meeres ist.

Abb. 23: Karte des Schwarzmeerraumes und der Propontis

Abb. 23: Karte des Schwarzmeerraumes und der Propontis.

Das Schwarze Meer, das in der Antike bei den Griechen den Namen "Pontos Euxeinos" trug, ist ein großes Binnenmeer, das somit rings von Küsten eingerahmt ist. Durch eine schmale, flußartige Meerenge, die in der Antike "Thrakischer Bosporos" genannt wurde und heute einfach Bosporos heißt, ist es mit der Propontis 287, dem jetzigen Marmarameer und noch weiter durch den Hellespont mit dem Ägäischen Meer und damit schließlich mit dem Mittelmeer verbunden (Strab. II 5,23). Nachdem Griechen im Verlauf der sogenannten "Ägäischen Wanderung" mit Ausnahme der nördlichen Bereiche die gesamte Inselwelt der Ägäis und deren kleinasiatische Küste besiedelt hatten (Heuß 1962, 73), war die weitere Ausdehnung in Richtung Propontis und in den Bereich des Schwarzen Meeres im Grunde nur die logische Fortsetzung dieser Entwicklung. Dabei sollen die meisten dieser Kolonien im Schwarzmeerraum - mit wenigen Ausnahmen - von Milesiern gegründet worden sein (Amm. Marc. XXII 8,12), und diese Milesier haben ihre Kolonien fast nur an den Küsten der Propontis und des Schwarzen Meeres angelegt (vgl. dazu Ehrhardt 1983, 51).

Fast alle Nachrichten, die wir über die nördliche Küste des Schwarzen Meeres in der Antike besitzen, stammen von den griechischen Ansiedlern, die zumindest als Vermittler häufig auftauchen. Es stellt sich somit die Frage, wann und in welchem Umfang Griechen in den Schwarzmeerraum eingedrungen waren, wobei mit Beantwortung dieser Fragen auch geklärt werden könnte, seit welcher Zeit den Griechen zuverlässige Informationen über die Küsten des Pontos Euxeinos und dessen eingeborene Anwohner zur Verfügung standen. Die Behauptung, daß zugleich der Kimmeriersturm an der westkleinasiatischen Küste Auswanderungen in den Schwarzmeerraum veranlaßt habe (Bilabel 1920, 4), stellt ferner eine direkte kausale Verbindung zwischen der Kolonialisierungsbewegung und der Bedrohung der ionischen Städte durch die Kimmerier her, zumal auf diese Weise die Gründungsdaten einiger griechischer Kolonien im Schwarzmeerraum auch chronologisch direkt mit dem Auftreten der Kimmerier im westlichen Kleinasien verknüpft werden.


287 Der früheste Beleg für die Bezeichnung "Propontis" findet sich bei Aischylos (Aischyl. Pers. 877).


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