4.5 Herodot und die Kimmerier: Zwischenergebnisse

Die Untersuchungen zur Überlieferung Herodots erbringen zahlreiche Teilergebnisse, die aber für sich alleinstehend nur sehr begrenzt aussagefähig sind. Somit muß es Aufgabe einer vergleichenden Betrachtung dieser Ergebnisse sein, die Aussagen Herodots zu den Kimmeriern in ihrer Gesamtheit zu beurteilen.

Wenn ein Schriftsteller die Gewährsleute, denen er seine Informationen verdankt, selbst nennt, so kann dies für die Untersuchung der Quellen ein günstiger Umstand sein. Nun vermeidet es Herodot aber zumeist, seine Informanten namentlich zu erwähnen. Dennoch werden die zum größten Teil verschollenen Werke einer ganzen Gruppe von Schriftstellern, die seit den Studien F. Creuzers gewöhnlich mit dem Namen Logographen bezeichnet werden (Creuzer 1845, 265-276), zu den von Herodot benutzten Quellen gezählt (Fritz 1967, 78.79). In der Einleitung seiner Abhandlung über Thukydides zählt Dionysios von Halikarnassos mehrere Schriftsteller auf, welche vor Thukydides gelebt haben (Dion. Hal. Thuk. 5). Von diesen nennt Herodot selbst jedoch nur den Hekataios von Milet namentlich, ohne allerdings genau darauf einzugehen, inwieweit er dessen Werk als Quelle benutzt hat. Zwar konnten aus der Erdbeschreibung des Hekataios fast 350 Fragmente wiedergewonnen werden, aber deren überwiegender Teil stammt aus dem geographischen Lexikon des Stephanos von Byzanz und enthält deshalb fast immer nur Namen und in der Regel eher kurze Kommentare, während historische Anmerkungen selten sind (Lendle 1992, 11.12).

Herodot nennt aber an vielen Stellen seines Werkes unter dem Sammelnamen eines Volkes oder einer Stadt zusammengefaßte Gewährsleute, die als einheimische, örtliche oder nationale Zeugen bezeichnet werden können (so schon Niese 1907, 426). Diese Angewohnheit Herodots, Mitglieder beteiligter Völker als Zeugen zu bevorzugen, scheint auf die Ansicht zurückzugehen, daß diese Menschen über die eigene Vergangenheit bzw. die ihres Volkes am besten unterrichtet sein müßten. Allerdings hielt B. Niese die Angabe von Gewährsleuten immer für ein Zeichen einer zweifelhaften und unsicheren Überlieferung (Niese 1907, 431). Auffälligerweise nennt Herodot seine Zeugen zumeist dann, wenn er Abweichungen oder Ergänzungen zum zentralen Stamm seiner Erzählungen bezeichnen, oder wenn er damit die Verantwortung für die Nachrichten oder Meinungen eben diesen Zeugen zuschieben will. Obwohl sich K. Meister dieser Tatsache bewußt war, kam er dennoch zu der Ansicht, daß Herodots "Berichte über fremde Völker ... insgesamt durchaus zuverlässig sind", auch wenn er "manches von seinen Gewährsleuten leichtgläubig übernommen ... [habe], besonders dann, wenn es um die fernere Vergangenheit dieser Völker ging" (Meister 1990, 36.37).

Gleich mehrere unterschiedliche Zeugnisse sind für einen im Rahmen dieser Untersuchung zentralen Teil der herodotischen Überlieferung zusammengestellt, nämlich den Ursprung bzw. die Herkunft der Skythen: eine den Skythen selbst zugewiesene Sage, eine Sage der pontischen Griechen, eine gemeinsame Erzählung von "Griechen und Barbaren" und schließlich noch das dem Aristeas zugeschriebene Gedicht "Arimaspea". Aus der Tatsache, daß Herodot, obwohl er selbst nur eine von diesen vier Versionen für wahrscheinlich erklärt, trotzdem auch die übrigen drei mitteilt, muß geschlossen werden, daß diese Ursprungssagen allgemein bekannt und weit verbreitet waren, wodurch ein Verschweigen dieser Varianten wohl berechtigte Kritik hervorgerufen hätte.

Häufig betont Herodot die mündliche Art der Überlieferung, was durch Formulierungen wie "man sagt" oder "ich habe gehört" besonders deutlich wird (vgl. De Sélincourt 1967, 36). Zwar können damit die angeführten einheimischen Gewährsleute nicht immer eindeutig als Zeitgenossen Herodots identifiziert werden - zumal derartige Nennungen seltener werden, je mehr sich Herodot in der Erzählung seiner eigenen Gegenwart nähert -, aber ihre Aussagen scheinen deutlich den Stempel des herodotischen Zeitalters zu tragen (Niese 1907, 437). Somit kann aber der Wert dieser Quellen bezüglich ihrer die Vergangenheit betreffenden Aussagen nicht eindeutig bestimmt werden, sondern vielmehr kann erst die Untersuchung dieser Aussagen selbst deren Wahrscheinlichkeit prüfen und somit auch die Bewertung der Quellen ermöglichen.

Eine isolierte Analyse der herodotischen Darstellung der lydischen Geschichte kann bezüglich der mit den Kimmeriern verbundenen Ereignisse keine über eine grobe Datierung hinausgehenden Ergebnisse liefern. Sicher scheint nur, daß eine von Herodot berichtete Eroberung von Sardes durch Kimmerier zur Zeit des zweiten Mermnaden stattgefunden hat, die damit in die zweite Hälfte des siebten Jahrhunderts v. Chr. gesetzt werden kann. Die Informationen über das erste Auftreten der Kimmerier in Kleinasien, die der medische Logos liefert, stehen im direkten Zusammenhang mit dem Einfall der Skythen nach Medien und scheinen somit die Gleichzeitigkeit beider Ereignisse zu bezeugen. Die sich daraus ergebenden Datierungsmöglichkeiten gehen dabei nicht wesentlich über diejenigen hinaus, die der lydische Logos bot. Allerdings scheint durch eine Kombination von herodotischen Angaben zur lydischen, medischen und ägyptischen Geschichte eine Berechnung des kimmerisch-skythischen Einfall nach Kleinasien um 630 v. Chr. möglich.

Allerdings betrachtete es bereits R. Schubert als zweifelhaft, ob die Kimmerier zu diesem Zeitpunkt wirklich zum ersten Mal Kleinasien überschwemmt haben (Schubert 1884, 40.41). Weil aber das Vordringen großer Völkerschaften in der Regel als einmaliges Ereignis dargestellt wird, könnte das Hauptproblem der Überlieferung Herodots in der Vermischung einer Reihe von einzelnen, sich über viele Jahre hin erstreckenden Wanderungszügen bzw. in der verkürzten Darstellung dieser Völkerbewegungen bestehen. Doch Herodot wußte offensichtlich nur von einem kimmerischen Einfall in Kleinasien zur Zeit des Lyderkönigs Ardys, wobei man die Möglichkeit einbeziehen muß, daß jener durch Synchronisation mit dem skythischen Einfall nach Medien unter Madyas in die zweite Hälfte des siebten Jahrhunderts v. Chr. datierte Kimmeriersturm nicht das erste Vordringen ins westliche Kleinasien war. Damit könnte bereits vor Ardys mit Kimmeriern im Bereich Lydiens und der Griechenstädte an den kleinasiatischen Küsten gerechnet werden, wobei sich dies aus den Angaben Herodots aber nicht ableiten läßt.

Für die Vertreibung der Kimmerier aus Asien durch den Lyderkönig Alyattes kann mit den von Herodot überlieferten Daten ebenfalls kein eindeutiges Datum abgeleitet werden. Zwar ermöglichen die herodotischen Angaben eine Einengung auf bestimmte Zeiträume - zwischen 611 und 592 v. Chr. bzw. zwischen 585 und 560 v. Chr. -, aber damit läßt sich dieses Ereignis letztendlich doch nur auf eine rund 50 Jahre umfassende Zeitspanne begrenzen. Klar dürfte allerdings sein, daß der Abzug der restlichen Kimmerier, wenn er überhaupt stattgefunden hat, nur über den thrakischen Bosporos nach Westen bzw. Nordwesten erfolgt sein kann. Eindeutig gibt Herodot die Vertreibung aus Asien an (Hdt. I 16,2), wobei der thrakische Bosporos die nächste Grenze zwischen Asien und Europa darstellte und Herodot zudem nichts von einem Eindringen bzw. Rückströmen von Kimmeriern in das inzwischen erstarkte Mederreich berichtet.

Der skythische Logos ist der dritte Abschnitt des Werks des Herodot, der Informationen über die Kimmerier enthält. Die zentrale Aussage zu den Kimmeriern ist hier, daß diese ihr ursprüngliches Siedlungsgebiet nördlich des Schwarzen Meeres gehabt hätten und dort von einwandernden Skythen verdrängt worden seien. Als Gewährsleute für diesen Bericht führt Herodot "Hellenen und Barbaren" an. Die bei Herodot übliche Unterscheidung zwischen "Hellenen" und "Hellenen am Pontos" sowie der Umstand, daß mit den Barbaren an dieser Stelle nicht Skythen gemeint sein können - denn von diesen teilt Herodot eine andere Erzählung mit -, verweist deutlich auf die Herkunft dieser Geschichte aus Ionien. Damit werden allerdings Zeugen benannt, deren direkte Erfahrungen mit Kimmeriern und Skythen sich eher auf den kleinasiatischen Raum beschränkten. Dort waren diese Völker zwar bekannt, aber über deren Herkunft müssen keine authentischen Vorstellungen existiert haben. Die zusätzliche Erwähnung des Aristeas von Prokonnesos - sozusagen als weiteren, unabhängigen Zeugen - deutet dabei eher darauf hin, daß Herodot auf diese Weise dringend eine Bestätigung für seine nicht allgemein anerkannte Geschichtsinterpretation suchte.

Überprüft man die Aussagen Herodots von den Wanderungen der Kimmerier und der Skythen unter Zuhilfenahme heutiger geographischer Kenntnisse, so sind die Wege, die Skythen und Kimmerier genommen haben müßten, kaum wahrscheinlich. Einerseits gibt es am Schwarzen Meer entlang oder auch nur in dessen Nachbarschaft im westlichen Kaukasus keine für größere Nomadenhorden passierbaren Wege, womit die von Herodot für den Einfall der Kimmerier behauptete Route unmöglich ist. Der für die Skythen angegebene Weg an der Ostflanke des Kaukasus vorbei ist zwar gangbar, aber der von Herodot überlieferte genaue Ablauf der Ereignisse läßt sich nicht mit einer derartigen skythischen Streckenwahl vereinbaren. Die von den Massageten verfolgten Skythen müßten diesen Weg zunächst in nördlicher Richtung benutzt haben, um bei der anschließenden "Verfolgung" der Kimmerier den gleichen Weg nun in südlicher Richtung zu nehmen, womit sie sich jedoch der Gefahr eines Zusammenstoßes mit den unter Umständen nachrückenden Massageten ausgesetzt hätten.

R.M. Cook schloß aus der großen Mühe, die sich Herodot gibt, um zu beweisen, daß die Kimmerier die Vorgänger der Skythen in der heutigen Ukraine waren, daß kaum eine starke Tradition zu Kimmeriern im nordpontischen Bereich bestanden haben konnte (Cook 1946, 72). Die Skythen selbst sahen sich nämlich als Ureinwohner der pontischen Steppen an und glaubten, daß von ihrem sagenhaften Ahnherrn Targitaos an bis zum Einfall des Dareios - also um 513 v. Chr. - rund 1.000 Jahre vergangen seien. Auch die in den Städten der Schwarzmeerküste lebenden Griechen müssen, da sie eine "hellenisierte" und in den Kanon der Heraklestaten eingereihte Fassung der skythischen Abstammungssage verbreiteten, von einer skythischen Besiedlung des nordpontischen Bereichs zumindest seit der mythischen Zeit des Herakles ausgegangen sein. Also berichtet keiner der von Herodot angeführten Zeugen, die selbst aus dem Gebiet nördlich des Schwarzen Meeres stammen, darunter mit den Skythen sogar "Beteiligte" der behaupteten Völkerwanderung, etwas von einer Anwesenheit von Kimmeriern im nordpontischen Bereich vor einer Ankunft der Skythen. Zudem sprechen auch weitere Angaben Herodots zur Besiedlung der nordpontischen Steppen gegen eine Präsenz von Kimmeriern im angegebenen Zeitraum. Auch der ägyptische Pharao Sesostris soll bei einem Feldzug, der ihn bis in die nordpontischen Steppen geführt habe 276, dort bereits Skythen angetroffen haben (Hdt. II 103,1; II 110,2.3). Selbst wenn die Angaben des Herodot zur ägyptischen Geschichte die Entwicklung einer jahrgenauen ägyptischen Chronologie nicht erlauben, so ist dennoch klar, daß Sesostris bei Herodot deutlich vor der Zeit anzusetzen ist, in welche die Einwanderung der Skythen in die heutige Ukraine gefallen sein müßte 277. Auch wenn man annehmen muß, daß dieser Feldzug nie stattgefunden hat und nur eine "Vorwegnahme" des Skythenfeldzuges des Dareios darstellt 278, muß deutlich darauf hingewiesen werden, daß Herodot keine Veranlassung gehabt hätte - gegen eventuell besseres Wissen -, Skythen anstelle von Kimmeriern als Bewohner der Landschaften nördlich des Schwarzen Meeres anzugeben.

Auch die Erzählung zur Genese der Sauromaten macht deutlich, daß zur Zeit des Herodot weitgehend von einer bereits langandauernden skythischen Besiedlung der nordpontischen Steppen ausgegangen wurde. Die Geschichte von der Verbindung zwischen Amazonen und Skythen ist von Herodot mit der Amazonenschlacht am Fluß Thermodon verbunden (Hdt. IV 110,1) 279, an welcher den sagenhaften Erzählungen nach auch Herakles teilgenommen hatte 280. Wenn aber selbst die griechischen Sagen weitgehend von einer skythischen Urbevölkerung nördlich des Schwarzen Meeres ausgingen, muß diese Meinung zumindest bis zur Zeit des Herodot bei den Griechen sehr weit verbreitet gewesen sein.

König

 Zitat

 Jahre

 Zitat

 Synchronismus

 Zitat

Sesostris

II 102

       

Pheros

II 111

       

Proteus

II 112

   

Paris und Helena unterwegs nach Troja

II 113

Rhampsinitos

II 121

       

Cheops

II 124

50

II 127

   

Chefren

II 127

56

II 127

   

Mykerinos

II 129

       

Asychis

II 136

       

Anysis

II 137

       

Sethos

II 141

   

Sanacharibos, König von Arabien und Assyrien

II 141

12 Könige

II 147

       

Psammetichos

II 153

54

II 157

   

Nekos

II 158

16

II 159

   

Psammis

II 160

6

II 161

   

Apries

II 161

25

II 161

   

Amasis

II 172

44

III 10

Kyros;
Kambyses

III 1
III 1

Psammenitos

III 10

½

III 142

Kambyses

III 10

Tab. 8: Chronologieschema der ägyptischen Könige von Sesostris bis Psammenitos nach den Angaben Herodots.

Während also die Angaben Herodots über die Aktivitäten der Kimmerier in Kleinasien als gesichert gelten können und nur deren absolutchronologische Einordnung Unsicherheitsfaktoren erkennen läßt, müssen die Aussagen, welche die kimmerische Geschichte vor deren Auftreten im westlichen Kleinasien betreffen, zumindest als fragwürdig betrachtet werden. Unter Berücksichtigung dieser Tatsache gewinnt der Umstand Bedeutung, daß eine Untersuchung der Arbeitsweisen des Herodot die Methode erkennen läßt, ungesicherte Sachlagen durch Erkenntnisse zu erhellen, die zwar auf den naturwissenschaftlichen und historischen Forschungen seiner eigenen Zeit basierten, aber dennoch der endgültigen Beweise entbehrten. Häufig kann man bei Herodot feststellen, daß er das "Unbekannte aus dem Bekannten" erschließt, wie er es gelegentlich selbst zugibt (Hdt. II 33; vgl. IV 31; V 10). Er gibt aber nicht immer im Einzelnen an, welche seiner Erkenntnisse durch derartige Analogieschlüsse gewonnen wurden. Diese Methode, die aus der Beobachtung gegenwärtiger naturkundlicher oder historischer Erscheinungen versucht, Rückschlüsse auf Verhältnisse in der Vergangenheit zu ziehen, findet seit der Zeit Herodots häufiger Anwendung, und sie läßt sich auch bei dem Lyder Xanthos nachweisen (vgl. Erath. bei Strab. I 3,4). Bereits in der Erzählung des Aristeas, die eine mit den Arimaspen beginnende, über die Issedonen und Skythen und schließlich bis zu den Kimmeriern reichende Völkerwanderung beschreibt, wollte K. von Fritz eines der ältesten Zeugnisse für diesen "Übergang vom mythischen zum historischen Denken" erkennen (Fritz 1967, 35). Herodot vertritt nun die Meinung, daß die geographische Verteilung der Völker zu seiner Zeit den Endzustand einer umfangreichen Völkerverschiebung darstellte, wobei ihm von einigen der an der Wanderung beteiligten Völker - so den Skythen und den Massageten - die "Endpositionen" dieser Wanderungen bekannt waren. Infolgedessen nimmt er wohl an, die Marschroute der Völker zurückverfolgen zu können, indem er jeweils dem verdrängten Volk den Raum als Ausgangsgebiet zuweist, welche das entsprechend verdrängende zu seiner Zeit innehatte. Somit mußten die Gebiete am Araxes den ursprünglich skythischen Siedlungsraum gebildet haben, aus dem die Skythen von den Massageten vertrieben wurden. Dies spiegelt sich in der Aussage wider, daß die Skythen den Araxes überschreiten mußten, um den Massageten zu entkommen (Hdt. IV 11,1). Konsequenterweise mußte somit das von den Skythen zur Zeit Herodots besiedelte Gebiet nördlich des Schwarzen Meeres ehemals von den Kimmeriern besetzt gewesen sein, die somit dem Druck der Skythen weichend nach Kleinasien ausgewandert wären. Dieser Schluß muß auf der Tatsache beruhen, daß die von Herodot ausgewerteten Quellen auf ein gleichzeitiges Auftreten von Kimmeriern und Skythen in Kleinasien bzw. im Mittleren Osten schließen ließen, wobei die geographische Anordnung der Skythen im Osten und der Kimmerier im Westen sowie das anschließende Eindringen der Kimmerier ins westliche Kleinasien auf einen Verdrängungsprozeß hindeuten. J. Harmatta betrachtete es sogar als wahrscheinlich, daß es Herodot persönlich war, der die Idee vom kausalen Zusammenhang zwischen den Bewegungen der Kimmerier und denen der Skythen in Kleinasien entwickelte, zumal Herodot diese Idee sechs Mal in Zusammenhängen erwähnt, bei denen es zumeist nicht notwendig war, über sie zu referieren (Harmatta 1990, 120).

Bereits K. Neumann deutete diese Interpretation Herodots als irrtümliche Kombination eines Schriftstellers, der dazu neigte, zwischen wichtigen Ereignissen einen kausalen Zusammenhang entdecken zu wollen. Den eigentlichen Kern der herodotischen Erzählung, nämlich die nordpontische Herkunft der Kimmerier, zog Neumann aber nicht in Zweifel (Neumann 1855, 117). N.K. Sandars hingegen meinte, daß Herodots "Kimmerisches Land" genauso gut ein Land Gimmira in Kappadokien gewesen sein könnte (Sandars 1971, 873), womit als nachvollziehbarer Grundgedanke der herodotischen Erzählung zwar ebenso eine durch Skythen verursachte Wanderung der Kimmerier ins westliche Kleinasien bestehen bliebe, dessen Ausgangsgebiet aber südlich des Kaukasus gelegen habe. Eine derartige Überlegung wird durch den Umstand bekräftigt, daß zwar Herodot selbst die Abmessungen der Erdteile und ihre Grenzlinien klar zu definieren sucht, für einen Teil seiner Quellen aber angenommen werden muß, daß ihnen andere Vorstellungen zugrunde lagen. Wenn Archilochos, ein Lyriker des siebten Jahrhunderts v. Chr. 281, den Lyderkönig Gyges als "Gebieter über das schafenährende Asien" bezeichnet (Frg.  23 D), so dürfte dieser Aussage der Umstand zugrunde liegen, daß der Name Asien zur Zeit des Archilochos - und somit auch zur Zeit der Kimmerierstürme - nur den westlichen Teil des heute Kleinasien genannten Gebietes oder sogar allein Lydien bezeichnete 282. Wenn eine von Herodot herangezogene Quelle davon berichtete, daß die Kimmerier unter dem Druck von Skythen nach Asien kamen, so könnte Herodot unter dem Einfluß neuer geographischer Vorstellungen über die Größe und relative Lage der Erdteile zueinander einen kimmerischen Vorstoß ins westliche Kleinasien als die von ihm berichtete Flucht der Kimmerier über den Kaukasus fehlinterpretiert haben. Zudem muß die Möglichkeit einbezogen werden, daß mit dem Kaukasus, den Kimmerier und Skythen überquert haben sollen, eventuell auch andere Gebirgszüge innerhalb Kleinasiens gemeint waren (vgl. Arr. anab. III 28,5; V 5,1-5) 283.

Der von Herodot wiedergegebene Bericht des Aristeas enthält als einzige "geographische" Mitteilung die Feststellung, daß die Kimmerier unter dem Druck der Skythen ihr Land am "Südmeer" verlassen mußten. Mit diesem "Südmeer" wird üblicherweise - sicherlich den Angaben der dritten Abstammungssage des Herodot folgend - der Pontos Euxeinos identifiziert. Die Bezeichnung "Südmeer" findet sich bei Herodot jedoch an keiner weiteren Stelle, die sich mit dem "Schwarzen Meer" in Verbindung bringen läßt. Außerdem dürfte die Bezeichnung "Südmeer" für das Schwarze Meer allein dann sinnvoll gewesen sein, wenn sie es zum Gegenstück eines "Nordmeeres" machte. Herodot hingegen erzählt, daß er über keine Informationen bezüglich eines Europa im Norden begrenzenden Meeres verfügt habe (Hdt. IV 45). Vielmehr behauptet Herodot - unmittelbar an seine Erzählung über den Aristeas anschließend -, daß er niemand getroffen habe, der ihm sichere Auskünfte über die nördlichen Gebiete Europas geben konnte. Ausdrücklich sagt Herodot, daß selbst Aristeas nicht in diese Gebiete vordringen konnte und nur bis zu den Issedonen gelangte (Hdt. IV  6). Die Erkundigungen des Herodot führten ihn zu der Erkenntnis, daß diese nördlichen Gebiete "völlig wüst" seien und - "soviel er wisse" - dort kein Volk wohne (Hdt. IV 18), wobei Herodot wenig später mit dem im Norden ständig fallenden Schnee und der damit verbundenen Kälte (Hdt. IV 31) eine Begründung für die behauptete Unbewohnbarkeit des nördlichen Europas gibt. Somit war zumindest Herodot kein Volk bekannt, welches sowohl die nördliche Küste des Schwarzen Meeres als auch die Südküste eines Meeres gekannt hätte, das mit der Benennung "Nordmeer" als Gegenstück des als "Südmeer" charakterisierten Schwarzen Meeres verstanden worden wäre. Außerdem findet sich die Bezeichnung "Südmeer" für das Schwarze Meer bei Herodot nur an dieser Stelle, während er diese Benennung ansonsten nur für Meere oder Meeresteile verwendet, die Asien oder Libyen nach Süden begrenzen 284.

Die Namen "Südmeer" und "Nordmeer" werden von Herodot nur zweimal unter unmittelbarer Bezugnahme aufeinander benutzt. Einerseits verwendet Herodot diese Begriffe bei seiner Beschreibung des von Dareios erbauten "Suezkanals", der die kürzeste Verbindung zwischen "nördlichem" und "südlichen" Meer, also zwischen dem Mittelmeer und dem Roten Meer darstellte (Hdt. II 158) 285. Andererseits benutzt Herodot bei seiner Beschreibung der Erdteile diese Bezeichnungen, um mit den Siedlungsgebieten der Perser am "Südmeer" und denen der Kolcher am "Nordmeer" die Nord-Süd-Ausdehnung Asiens an dieser Stelle zwischen Persischem Golf und Schwarzem Meer zu beschreiben (Hdt. IV 37). Der Eindruck, daß Herodot hier eine persische oder eine von persischen Vorstellungen geprägte Quelle benutzt (vgl. Schmitt 1985, 412), wird durch den Umstand verstärkt, daß Herodot dieses "Nordmeer" nicht durch den eindeutigen Zusatz "Pontos Euxeinos" näher bestimmt, sondern dadurch, daß er die Mündung des Phasis erwähnt (Hdt. IV 37).

In beiden Fällen, in denen Herodot die Bezeichnungen "Südmeer" und "Nordmeer" gemeinsam benutzt, erweist sich diese Wortwahl stark kontextabhängig und dadurch wohl auch abhängig von der benutzten Quelle. Folglich scheint es mehr als wahrscheinlich zu sein, daß auch die alleinige Verwendung einer dieser auf Angabe einer Himmelsrichtung beruhenden Namen bei Herodot unmittelbar von der benutzten Vorlage abhängig ist. Die Bezeichnung "Südmeer" für das Meer, an welches das Land der Kimmerier reichte, stammt deshalb mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus dem Gedicht des Aristeas. Weil aber Aristeas keine Informationen über ein nördlich des Pontos Euxeinos befindliches Meer bot (vgl. Hdt. IV 16), gibt es keinen Grund, im "Südmeer" der "Arimaspea" das Schwarze Meer zu identifizieren. Diese Bestimmung beruht vor allem auf der Tatsache, daß Herodot selbst die ehemaligen Siedlungsplätze der Kimmerier im Skythenland angibt. Zudem suggeriert die Erwähnung der Issedonen als Gewährsleute des Aristeas die Möglichkeit, die in der "Arimaspea" geschilderte Völkerwanderung im fernen Norden bzw. Nordosten lokalisieren zu können. Auffälligerweise berichtet Herodot über die Issedonen fast ausschließlich im Zusammenhang mit der Erzählung des Aristeas 286.

E. Norden äußerte die Auffassung, daß der lydische Lyriker Alkman den Namen der Issedonen in der Schreibweise "Essidonas" mit "E" nicht dem Gedicht des Aristeas entnommen habe, wo der Name in der Form "Issidonas" mit "I" gut bezeugt sei, sondern vielmehr Alkman der älteste Zeuge für die Erwähnung von Issedonen sei (Norden 1959, 19 Anm. 1). Wenn man dieser Meinung folgt, so wäre die früheste nachweisbare Erwähnung der Issedonen mit Alkman in die zweite Hälfte des siebten Jahrhunderts v. Chr. zu datieren. Es ist bemerkenswert, daß die Rhipäen, die zwar von Herodot nicht genannt werden, aber von den von Aristeas erwähnten Hyperboreern kaum getrennt werden können, auch zuerst bei Alkman bezeugt sind (Alkm. F 162 C.).

Damit ließe sich allerdings zumindest Herodot nicht mehr als Zeuge einer Invasion Osteuropas durch kimmerische Reiter im achten vorchristlichen Jahrhundert anführen, deren sonstige "Beweise" alle archäologischer Art sind.


276 Die von Herodot als "Beweise" für die ausgedehnten Feldzüge des Sesostris angeführten Triumphsäulen dürften sich in den meisten Fällen als nicht ägyptisch erweisen (vgl. Lange 1954, 23; West 1992).
277 Herodot berichtet in anderem Zusammenhang, daß Paris nach dem Raub der Helena mit seinen Schiffen nach Ägypten verschlagen wurde, wo Proteus als König herrschte (Hdt. II 111-116). Damit muß aber die angebliche Expedition des Sesostris nach Skythien und Thrakien rund zwei Generationen vor dem Trojanischen Krieg eingeordnet werden (vgl. dazu Tab. 8). Senswosret Chakaurê, der Herodot als Sesostris geläufig war, herrschte indes sogar bereits im 19. Jahrhundert v. Chr. (vgl. Lange 1954, 8.20).
278 Darauf läßt beispielsweise Diodoros' Beschreibung des Feldzuges schließen: Mangel an Lebensmitteln und die ungünstige Beschaffenheit der Landschaft hätten die Armee Sesostris’ zum Rückzug gezwungen (Diod. I 55,6). Allerdings gibt sich Herodot die größte Mühe, "Beweise" für diesen Feldzug des Sesostris zu nennen (vgl. hierzu Armayor 1980).
279 Herodot kennt allerdings auch einen Thermodon genannten Fluß in Böotien (Hdt. IX 43).
280 Dieser zeitliche Ansatz läßt sich jedoch nur schwer mit einer sich auf Herakles berufenden Herkunft der Skythen vereinbaren.
281 Vgl. dazu auch Kap. "6.1.1.1 Archilochos".
282 Herodot berichtet, daß die Lyder die Urheberschaft des Namens "Asien" für sich reklamierten und daß ein Teil ihrer Hauptstadt Sardes "Asiada" genannt wurde (Hdt. IV 45,3).
283 Wenn Arrianus vom Oxus berichtet, daß dieser Fluß im Kaukasus entspringt und in das Hyrkanische, also ins Kaspische Meer mündet (Arr. anab. III 29,2; vgl. III 30,6.7), muß davon ausgegangen, daß auch Gebirge östlich dieses Meeres als Kaukasus bezeichnet wurden.
284 So nennt Herodot einmal das Libyen nach Süden begrenzende Meer "Südmeer" (Hdt. III 17,1), an anderer Stelle bezeichnet er den auch "Rotes Meer" genannten Persischen Golf als "Südmeer" (Hdt. IV 37,1) (vgl. dazu auch Sieberer 1995, 20-22 Anm. 18.19).
285 Auch die weiteren Fälle, in denen das Mittelmeer von Herodot als "Nordmeer" bezeichnet wird, stehen im direkten Zusammenhang Ägypten betreffender Ausführungen (Hdt. II 11; II 159,1; IV 42,2).
286 Selbst der vermeintlich von Aristeas unabhängige Bericht über die Issedonen als nordöstlichstes Volk und über ihre Sitten (Hdt. IV 25-27) schließt mit der Erwähnung der benachbarten Arimaspen und Greifen ab und verrät damit seine Abhängigkeit von der "Arimaspea".


zurück zum
vorherigen Kapitel
zurück zur
HOMEPAGE
weiter zum
nächsten Kapitel