4.4.2.4 Thraker und Kimmerier

Nicht die Darstellung des Herodot der "kimmerischen" Geschichte selbst ist der Anlaß dafür, die Beschreibungen von Thrakern und Kimmeriern hier gemeinsam zu untersuchen, zumal im Werk des Herodot überhaupt keine Hinweise auf eine Verbindung zwischen diesen beiden Völkern zu finden sind. Der Umstand, daß Teile der archäologischen Forschung bis zum heutigen Tag in der Wortschöpfung "thrako-kimmerisch" 269 die Namen der Thraker und der Kimmerier geradezu unlösbar miteinander verbunden haben, ist der Grund für dieses Vorgehen.

Der Bericht des Herodot über die vom persischen Großkönig Xerxes veranstaltete Zählung des Heeres vor dem Feldzug gegen Griechenland bietet ihm auch Gelegenheit, eine Beschreibung sogenannter "asiatischer Thraker" zu liefern (Hdt. VII 75): Auf dem Kopf trugen sie eine Fuchspelzmütze, am Leib ein Unterkleid, über das ein bunter Burnus geworfen wurde. Füße und Unterschenkel wurden von Stiefeln aus Hirschleder bedeckt. Die Bewaffnung der Thraker bestand aus Wurfspeeren, leichten Schilden und kurzen Schwertern 270. Den Namen dieser Thraker gibt Herodot mit Bithyner an, womit er zugleich deren damals aktuelles Siedlungsgebiet im nordwestlichen Kleinasien bestimmt, wobei diese Thraker - angeblich nach ihrer eigenen Aussage - vor ihrer Einwanderung in Asien nach ihren ursprünglichen Siedlungsplätzen am Strymon benannt gewesen sein sollen. Erstaunlich ist, daß keine Thraker unter den Völkern genannt werden, welche die Reiterei des persischen Heeres stellten (vgl. Hdt. VII 84-87; VII 185) 271.

Herodot behauptet, daß das Volk der Thraker nach dem indischen zwar das größte der Welt sei, aber die verschiedenen thrakischen Stämme seien sich uneinig. So hätten in jeder Landschaft die Thraker einen besonderen Namen, wobei die Sitten des ganzen Volkes allerdings durchweg dieselben seien (Hdt. V 3). Die herodotische Beschreibung der thrakischen Sitten beschränkt sich im wesentlichen auf eine Schilderung ihrer angeblichen, für die Griechen höchst ungewohnten sozialen und familiären Strukturen sowie ihres Totenkults (Hdt. V 4-6.8).

Von den Kimmeriern hingegen hat Herodot keine Beschreibungen geliefert, die sich mit denjenigen der Thraker oder der "skythischen" Völker vergleichen ließe. Weder deren Aussehen, so etwa Bekleidung und Bewaffnung, noch deren Lebensweise und Sitten finden bei Herodot Erwähnung. Zudem muß man, anders als es etwa W. Nagel behauptete, der kimmerische Gewährsleute des Herodot annahm (Nagel 1982, 29), davon ausgehen, daß Herodot selbst niemals mit Kimmeriern zusammengetroffen ist 272. Somit bleibt nur die Möglichkeit, das den Kimmeriern nachgesagte Verhalten einer kritischen Analyse zu unterziehen, um aus diesem Schlußfolgerungen zu ziehen.

Daß Herodot durchaus klare Vorstellungen vom Verhalten eines nomadischen Volkes hatte, das von einem überlegenen Gegner angegriffen wird, macht er in der Beschreibung des persischen Skythenfeldzuges deutlich (Hdt. IV 127). In seinem vierten Buch beschreibt Herodot, wie die Skythen vor den eindringenden Persern zurückwichen, der skythische König Idanthyrsos aber dennoch den Vorwurf der Feigheit zurückwies: "Wir Skythen haben nicht Städte, nicht Ackerland; so drängt uns keine Furcht, daß jene erobert, dieses verwüstet werden könnte, zur Schlacht". Die Kimmerier hingegen sollen angesichts der herannahenden Skythen nach Aussage Herodots ein gänzlich anderes Verhalten gezeigt haben (Hdt. IV 11). Die Kimmerier hätten eine Ratsversammlung abgehalten, in der es zu Diskussionen gekommen sei, ob man das Land gegen die Skythen verteidigen solle (Hdt. IV 11,2.3). Die Könige der Kimmerier sollen die Meinung vertreten haben, daß man um das Vaterland kämpfen müsse, und daß es besser sei, auf der heimischen Erde zu fallen, als heimatlos zu werden 273, während die Masse des Volkes aber kampflos abziehen und nicht bloßer Erde wegen kämpfen wollte. Damit widerspricht zumindest das von Herodot behauptete Verhalten der kimmerischen Oberschicht demjenigen, das von einem nomadischen Reitervolk zu erwarten wäre. Es gibt zwar keine einzige Herodot-Stelle, welche die Kimmerier direkt als Reiternomaden kennzeichnet, aber die große Beweglichkeit der Kimmerier, die sich aus der Erzählung Herodots durchaus ableiten läßt 274, erzwingt diesen Schluß.

Diese widersprüchlichen Berichte deuten darauf hin, daß Herodot seine Berichte den zu erklärenden "Ergebnissen" gemäß manipulierte: Ein am Tyras vorhandenes Hügelgrab mußte, um als "Beweis" für die Anwesenheit von Kimmeriern im nordpontischen Bereich brauchbar zu sein, nun einmal gefallene Kimmerier bergen 275. Und die große Zahl toter Kimmerier, welche die Griechen wohl unter einem besonders großen Kurgan vermuteten, schien weiterhin nur durch einen Kampf zwischen den Kimmeriern selbst zu erklären zu sein, als dessen Grund somit Meinungsverschiedenheiten zwischen Kimmeriergruppen angenommen wurden mußten. Wenn jedoch ein "Bürgerkrieg" zur Erklärung der zahlreichen kimmerischen Gefallenen herangeführt wurde - und nicht etwa Abwehrkämpfe gegen die vordringenden Skythen -, scheinen den Griechen keine Nachrichten über direkte Kampfhandlungen zwischen Kimmeriern und Skythen im nordpontischen Bereich bekannt gewesen zu sein.


269 So verwandte R. Abramischwili in dem kürzlich erschienen Aufsatz über "Neue Angaben über die Existenz des thrako-kimmerischen ethnischen Elements und des sog. Skythischen Reiches im Osten Transkaukasiens" diese Bezeichnung nicht nur mehrfach im Text, sondern auch im Titel der Studie (Abramischwili 1995, 24.37.38).
270 Herodot berichtet von einer Reise thrakischer Dolonker nach Athen, wo sie durch diese "fremde Tracht" und ihre Bewaffnung mit Lanzen dem Miltiades auffielen (Hdt. VI 35). Der Bogen scheint wiederum eine der Hauptwaffen der ebenfalls thrakischen Geten gewesen zu sein (vgl. Hdt. IV 94).
271 Allerdings sind unter den von Herodot genannten Stämmen, welche die Reiterei des Xerxes-Heeres gestellt haben sollen, auch keine Skythen zu finden.
272 Vgl. auch Fußnote 199.
273 Dahingegen beschreibt Ammianus Marcellinus das Verständnis von Nomaden zu einer "Heimat" folgendermaßen: "et habitacula sunt haec illis perpetua, et quocumque ierint, illic genuinum existimant larem" - "So sind also die Wagen ihr beständiger Aufenthalt, und jede Stelle, zu der sie kommen, gilt ihnen als ursprüngliche Heimat" (Amm. Marc. XXXI 2,18).
274 Die Abwanderung aller Kimmerier aus den nordpontischen Steppen nach Kleinasien und die dortigen Raubzüge gegen Sardes und die ionischen Städte würden die Mobilität der Kimmerier belegen. Deutlicher wird deren Einordnung als Reitervolk bei Kallimachos, der sie als "rossemelkende Kimmerier" kennt (Kallim. Artem. 251-258).
275 Daß diese Art der Beweisführung sich sozusagen im Kreis bewegt, wird zumeist nicht bemerkt, geschweige denn kritisiert.


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