6.1.1.1 Archilochos

Zunächst ist es wichtig festzustellen, daß Herodot uns nichts berichtet hat, was auf einen direkten Zusammenhang zwischen dem Lyderkönig Gyges und den Kimmeriern hindeutet. Allerdings gibt uns sein Bericht über die Machtergreifung des Gyges einen Hinweis, mit dem sich unter Einbeziehung der Erzählung des Strabon doch eine Verbindung konstruieren läßt. Herodot nennt dort als Zeitgenossen des Gyges, der ebenfalls von der Thronbesteigung dieses Mermnaden berichtet habe, den Archilochos (Hdt. I 12,2), von dessen Gedichten jedoch nur noch Bruchstücke vorhanden sind. Zumindest aber belegen einige dieser Fragmente - wie das, welches Gyges als "Gebieter über das schafenährende Asien" bezeichnet (Frg. 23 D) -, daß dem Archilochos die Person des Gyges zumindest bekannt war. Alle antiken Berechnungen, die sich mit Datierungen von Gyges, Archilochos sowie von Ereignissen, die mit diesen beiden Personen verknüpft werden können, beschäftigen, bauen letztendlich auch auf der aus dieser Gegebenheit erst erschlossenen Gleichzeitigkeit von Archilochos und Gyges auf - und die modernen tun es ebenso (vgl. Jacoby 1941, 101).

Seine besondere Bedeutung für die Behandlung der Kimmerierfrage gewinnt Archilochos aber durch ein weiteres Fragment, in dem der Dichter das widrige Schicksal einer kleinasiatischen Griechenstadt erwähnt: "Ich klag' um Thasos' Unglück, nicht Magnesias!" (Frg. 19 D). Eventuell spielt Archilochos hier, wie bereits Strabon vermutet, auf die Eroberung der ionischen Griechenstadt Magnesia durch Trerer an 335, die Strabon in diesem Zusammenhang außerdem eindeutig als "kimmerisches Volk" bezeichnet (Strab. XIV 1,40) 336. Magnesia muß durch diesen Angriff weitgehend zerstört und entvölkert worden sein, weil anschließend das ehemalige Territorium dieser Stadt von den Ephesern besetzt werden konnte (Strab. XIV 1,40). Damit ließe sich zunächst der Vorstoß der Kimmerier nach Ionien, den Herodots Erzählung nur kurz streift (Hdt. I 6,3), in die - indes noch zu bestimmende - Lebenszeit des Archilochos setzen. Ob damit aber diese Zerstörung Magnesias in das mittels vorderasiatischer Quellen oft auf 652 bzw. 657 v. Chr. bestimmte Todesjahr des Lyders Gyges (Olmstead 1960, 422; vgl. dazu Hartman 1962) bzw. kurz vor diesen Zeitpunkt gesetzt werden kann, wie oft vorgeschlagen wird (Jacoby 1941, 106; Rankin 1977, 7), ist jedoch nicht beweisbar 337.

Problematisch bei der Bestimmung von genaueren Lebensdaten des Archilochos ist aber, daß diese überwiegend durch Synchronisierungen mit von ihm erwähnten Personen und Ereignissen ermittelt werden müssen. Der Umstand, daß Gyges und Archilochos Zeitgenossen gewesen sein sollen, bildet hierbei zumeist die Ausgangsbasis der Berechnungen (Gelzer 1875, 249; Treu 1959, 172). Aber nur selten wird darauf hingewiesen, daß unter Umständen nur ein Teil der Lebenszeit des Archilochos in die Regierungs- und Lebenszeit des Gyges gesetzt werden muß, und daß es auch keinen Hinweis gibt, ob dieser Abschnitt die Jugend oder das Alter des Archilochos war (Blakeway 1936, 44). Ebenso wird versucht, die Erwähnung des Schicksals der Stadt Magnesia zur zeitlichen Bestimmung der Lebensdaten des Archilochos zu benutzen (Treu 1959, 173; Huxley 1966, 59), indem dieses als direkter Hinweis auf den Kimmeriersturm gedeutet wird 338. Dieser - jedoch nur postulierte - direkte Hinweis auf Kimmerier bei Archilochos führte sogar zu der Behauptung, daß Homer, da dieser in der Odyssee ebenfalls die Kimmerier erwähnt, ein Zeitgenosse des Archilochos und auf diese Weise auch des Gyges gewesen sein müßte (Gelzer 1875, 249). Damit bewegen sich allerdings die Datierungen für Gyges, Archilochos und den erschlossenen kimmerischen Vorstoß auf Magnesia miteinander im Kreis und sind kaum dazu geeignet, eine sichere gegenseitige zeitliche Verankerung zu gewährleisten 339.

Eine absolutchronologische Verankerung verspricht zunächst allerdings eine von Archilochos im Fragment 74 D erwähnte Sonnenfinsternis, die der Dichter wahrscheinlich selbst beobachtet hat (so Lasserre 1947). O. Crusius glaubte diese in der Sonnenfinsternis vom 5. April 648 v. Chr. identifizieren zu können (Crusius 1895, 489; ebenfalls Rankin 1977, 8.9) und setzte deshalb das floruit des Archilochos in dieses Jahr und seine Lebenszeit zwischen 680 und 640 v. Chr. (Crusius 1895, 490). In Betracht kommen aber zumindest vier weitere Eklipsen zwischen den Jahren 689 und 657 v. Chr. (vgl. Boll 1909, 2353). A. Blakeway sah sogar die Sonnenfinsternis des Jahres 711 v. Chr. als durchaus mit den von ihm errechneten Lebenseckdaten des Archilochos vereinbar (Blakeway 1936, 44), zumal Clemens von Alexandria, der sich wiederum auf Xanthos beruft, angibt, daß Archichos nach der zwanzigsten Olympiade bekannt wurde, also ab 700 v. Chr. (Clem. Alex. strom. I 131,7). Demnach könnte Archilochos als junger Mann eine Sonnenfinsternis des Jahres 711 v. Chr. beobachtet haben. Clemens gibt an gleicher Stelle an, daß Archilochos den Untergang von Magnesia als erst kurz zuvor geschehen erwähnt, womit dieses Ereignis dann jedoch ebenfalls um 700 v. Chr. bzw. früher 340 angesetzt werden müßte (so Blakeway 1936, 46). Clemens Alexandrinus gibt aber ebenfalls an, daß Simonides in die Zeit des Archilochos gesetzt wird (Clem. Alex. strom. I 131,8). In der lateinischen Übersetzung der Chronik des Eusebios durch Hieronymus findet sich die zwar gleiche Bemerkung - Archilochus et Simonides et Aristoxenus musicus inlustres habentur - jedoch für das erste Jahr der neunundzwanzigsten Olympiade, was ein floruit des Archilochos um 664 v. Chr. implizieren würde.

Ein anderes Fragment gibt eine weitere Erwähnung des Gyges durch Archilochos wieder: "Des Gyges Schicksal, des goldschweren, schert mich nicht" (Frg. 22 D). Weder bei Strabon noch bei Herodot lassen sich aber direkte Hinweise darauf finden, welches besondere Schicksal des Gyges damit von Archilochos angesprochen wird. Erst die Identifizierung des in keilinschriftlichen Quellen genannten Gûgu von Luddi als Gyges von Lydien gibt einen Hinweis auf das möglicherweise gewaltsame Ende des lydischen Königs. Gûgu soll, nachdem er eine Allianz mit Assurbanipal von Assyrien verlassen hatte, durch Gimirräer, in denen zumeist Kimmerier identifiziert werden, den Tod gefunden haben 341. Somit kann ein aus den assyrischen Quellen ermittelter Zeitraum um das Jahr 652 v. Chr. als Todesdatum des Gyges als Ausgangspunkt für chronologische Berechnungen dienen (Jacoby 1941, 99). Allerdings lassen sich genaue Lebensdaten des Archilochos damit nicht endgültig bestimmen 342. Und ebenso bleibt unklar, wie das von Archilochos erwähnte widrige Schicksal von Magnesia relativ zu diesem Datum einzuordnen ist.

Die zur Person des Lyrikers Archilochos angestellten Überlegungen ergeben keine eigenständigen Möglichkeiten einer sicheren chronologischen Einordnung von mit Kimmeriern verbundenen Ereignissen. Allerdings können sie zur Bestätigung von Ergebnissen herangezogen werden, die sich aus der Auswertung assyrischer Quellen ergeben.


335 Athenaios, sich an dieser Stelle auf Kallinos und Archilochos berufend, berichtet von einer Eroberung Magnesias durch die Epheser (Ath. XII 525c). Strabon hingegen zitiert Kallinos dahingehend, daß Magnesia gegen Ephesos im Krieg erfolgreich gewesen sei. Erst nach der Vernichtung der Magneten durch die Trerer hätten die Epheser den inzwischen verlassenen Ort in Besitz genommen (Strab. XIV 1,40).
336 Strabons Quelle für diese Angabe dürfte wohl Kallisthenes sein, den er für die zweifache Eroberung namentlich als Quelle nennt (Strab. XIII 4,8). Da in beiden Zusammenhängen Kallinos zur Bestätigung zitiert wird, muß dieser wiederum als eine der Quellen des Kallisthenes angenommen werden.
337 Vgl. hierzu auch Fußnote 338.
338 Eine Notiz des älteren Plinius besagt, daß der lydische König Kandaules ein Bild des Bularchos, das den Untergang Magnesias darstellte, mit Gold aufwog. Hierdurch wäre allerdings das ebenfalls genannte Datum für die Ermordung des Kandaules zwischen 708 und 705 v. Chr. klar terminus ante quem für diese Eroberung Magnesias (Plin. nat. VII 126; XXXV 55).
339 Das Todesdatum des Gyges versuchte V. Parker erst kürzlich präziser zu erfassen, nämlich durch "einen Anhaltspunkt, der diesen Zeitraum am unteren Rand einengen kann, und zwar den Verlauf des kimmerischen Marsches durch Kleinasien" (Parker 1997, 67-69).
340 Vgl. hierzu auch Fußnote 338.
341 Die assyrischen Quellen schließen aber die Möglichkeit, daß Gyges zufällig zur Zeit eines "Kimmeriereinfalls" in höherem Alter eines natürlichen Todes gestorben sein könnte, nicht prinzipiell aus (vgl. Lehmann-Haupt 1912, 1959.1960).
342 Auch H.D. Rankin schloß seine Studie über "Archilochos' Chronology" mit der Feststellung, daß der Dichter zwar sicher in das siebte Jahrhundert v. Chr. eingeordnet werden muß. Er konnte aber keine exaktere Datierung anbieten, weil die mit Archilochos in Verbindung gebrachten Ereignisse nur "through a filter of chronological uncertainty" betrachtet werden können (Rankin 1977, 15).


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