5.1.1 Zu den Gründen der ionischen Kolonisation

Oft wird eine Kombination von starkem Anwachsen der Bevölkerung und gleichzeitiger Bedrohung des Territoriums der ionischen Stadtstaaten durch äußere Feinde als Gründe für die Kolonisation genannt, die dadurch geradewegs als Notventil erscheint (so Roebuck 1959, 105). E. Ruschenbusch hingegen bezeichnete "die große Kolonisationswelle, die ohne einen beträchtlichen Bevölkerungsüberschuß überhaupt nicht denkbar ist", obendrein als Beweis für diese behauptete Überbevölkerung in Archaischer Zeit (Ruschenbusch 1991, 378). Das Fehlen von Bevölkerungsstatistiken macht es jedoch außerordentlich schwer, die Entwicklung der Einwohnerzahlen detailliert zu verfolgen. Die von Ruschenbusch angeführten Belege sind aber überwiegend indirekter Art: Beispielsweise wird aus Anordnungen wie den Solonischen Gesetzen auf Nahrungsmittelknappheit geschlossen, die wiederum auf Überbevölkerung zurückgeführt wird (Ruschenbusch 1991, 377). Auch die vermehrte Anzahl von Gräbern im Attika des achten Jahrhunderts v.Chr. wird zuweilen als Beweis für eine Bevölkerungsexplosion herangeführt (so etwa von Cawkwell 1992, 289). Allerdings hatte gerade Athen an dieser Kolonisationsbewegung keinen großen Anteil, und die festgestellte starke Zunahme der Bestattungen in Attika könnte beispielsweise auch die Folge von großen Epidemien sein (so Meier 1993, 44). Bezüglich eines Bevölkerungsanstieges in Milet läßt sich die Anschauung, daß dieser vielmehr als eine der unmittelbaren Folgen der Kolonisation denn als einer der Gründe für sie angesehen werden kann (so beispielsweise Huxley 1966, 68), durchaus rechtfertigen 288.

Die Herausbildung eines Handwerkerstandes in den bevölkerungsreichen Städten Ioniens und der daraus resultierende Druck, die Produkte des griechischen Handwerks abzusetzen, wird zuweilen als weiterer Grund herangeführt. Die Gründungen der Milesier wären somit in erster Linie aus handelspolitischen Erwägungen geschehen (Bilabel 1920, 3.69). Von anderer Seite wurde allerdings angeführt, daß der intensive Handel erst eine Auswirkung und nicht schon die Triebfeder der Kolonisation gewesen sei (so etwa Cook 1946, 86).

Daß Bedrohungen durch äußere Feinde auch eine verstärkte Auswanderungsbewegung hervorrufen konnten, verdeutlicht der Bericht des Herodot über die persische Eroberung Ioniens. So soll der Eroberungsfeldzug des Meders Harpagos die Bewohner der Städte Phokaias und Teos dazu veranlaßt haben, geschlossen ihre Heimatstädte zu verlassen, um sich an einer anderen Stelle niederzulassen (Hdt. I 164; I 168). Allerdings läßt sich eine persische Bedrohung kaum als Hauptursache für eine verstärkte milesische Kolonisationstätigkeit in diesem Zeitraum heranführen, weil ausgerechnet für Milet als einzige der ionischen Städte die Unterhaltung von guten Beziehungen zu den Persern von Beginn an bezeugt ist (Hdt. I 141,4; I 169,2). Deutlich früher muß aber der wachsende Einfluß des lydischen Reiches die Ionier einschließlich der Milesier einem bedeutenden Druck ausgesetzt haben. Schon von Gyges berichtet Herodot Feldzüge gegen ionische Städte wie Milet und Smyrna, wobei Kolophon sogar erobert worden sein soll (Hdt. I 14,4). Des Gyges Sohn Ardys, während dessen Herrschaft die Kimmerier nach Asien gekommen sein sollen (Hdt. I 15), eroberte Priene und führte ebenfalls Krieg gegen Milet (Hdt. I 15). Diese andauernden kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Milet und dem Lyderreich unter Alyattes sollen erst nach dem zwölf Jahre dauernden Krieg durch den Abschluß eines Bündnisses ("Symmachia") 289 ein Ende gefunden haben (Hdt. I 22,4). Eine Auswanderungsbewegung, die zwar unter dem lydischen Druck begonnen hätte, dürfte dann nach den erfolgreichen Ansiedlungen im Bereich der Propontis und des Pontos Euxeinos auch nach der Beendigung dieser Feindseligkeiten sicherlich nicht abgebrochen worden sein.

Unterschiedlich wird der direkte Einfluß der Kimmerier auf diese Kolonisationsbewegung beurteilt. Einerseits soll der kimmerische Aufenthalt im Vorderen Orient eine lähmende Wirkung auf die Entwicklung des Landhandels innerhalb Kleinasiens ausgeübt (Roebuck 1959, 53 Anm. 59) oder gar den Handel zwischen West- und Ostanatolien unterbrochen haben (Lenschau 1913, 177; Burn 1960, 102). Der hierdurch geförderte Verkehr über das Meer könnte schließlich bevorzugt zur Gründung von Handelsniederlassungen und Kolonien zumindest an der südlichen Küste des Schwarzen Meeres geführt haben. Damit wäre die Ausweitung der Kolonisationstätigkeit Milets in diesem Raum durch die Einschränkungen der Entfaltungsmöglichkeit der ionischen Stadt landeinwärts durch Kimmerier und Lyder veranlaßt worden (Roebuck 1959, 122.123; Burn 1960, 107). Dabei wird häufig davon ausgegangen, daß am Südrand des Schwarzen Meeres bereits vereinzelt Handelsplätze existierten, bevor sich im Anschluß daran griechische Kolonisten fest niederließen (Minns 1913, 439; Przeworski 1932, 31).

J. Boardman glaubte, daß die Zerstörung des Phrygerreiches durch die Kimmerier den Griechen eine intensivere Tätigkeit am Schwarzen Meer entlang der Nordküste Kleinasiens überhaupt erst ermöglichte (Boardman 1981, 284). Von anderer Seite wurde aber behauptet, daß gerade der Aufenthalt der Kimmerier im nördlichen Kleinasien zu einem Verlust der schon vorhandenen ionischen Handelsstützpunkte an den pontischen Küsten geführt habe (Miltner 1939, 195; Dihle 1970, 154) oder sogar eine Unterbrechung der gesamten milesischen Kolonisationsbewegung von 680 bis 650 v.Chr. verursacht habe (Ehrhardt 1983, 249).

Die Plünderungszüge der Kimmerier in Kleinasien bis zur ionischen Küste könnten eine verstärkte Kolonisationsbewegung aber auch erst veranlaßt haben (Bilabel 1920, 4), indem einige Teile der griechischen Bevölkerung dieser Bedrohung durch ihre Auswanderung entgehen wollten. Wenn man allerdings voraussetzt, daß die Ionier von der Herkunft der Kimmerier aus dem nordpontischen Bereich ausgingen, so wäre es mehr als bemerkenswert, wenn die Milesier gerade in dieser Zeit ihre Kolonien in das vermutete Ausgangsgebiet dieser Völkerwanderung gesetzt hätten (Cook 1946, 79). Auch wenn ein vollständiger Abzug der Kimmerier aus ihrem angenommenen Ausgangsgebiet vorausgesetzt worden wäre, dürfte die Vorstellung, daß die zu besiedelnden Gebiete inzwischen von einem Volk beherrscht wurden, dessen militärische Potenz diese Kimmerier erst zum Abzug bewegt haben soll, wenig einladend gewesen sein.

G.L. Huxley behauptete, daß zur Zeit der Kimmerierzüge die Interessen der kleinasiatischen Ionier noch eher lokaler Natur waren und sie demzufolge noch nicht begonnen hätten, Kolonien zu gründen (Huxley 1966, 55). Erst nach dem Abzug der Kimmerier hätten sich die Milesier als die energischsten Händler und Koloniegründer unter den ionischen Griechen hervorgetan (Huxley 1966, 63). Zwar sah auch A. Dihle die Überwindung der Kimmeriergefahr und die damit verbundene Stabilisierung der anatolischen Verhältnisse als Voraussetzung für die milesische Kolonisation seit der Mitte des siebten Jahrhunderts an, meinte aber, daß an eine ältere Handelstätigkeit im achten Jahrhundert v.Chr., also vor dem Kimmeriersturm, angeknüpft wurde (Dihle 1970, 154).

Die Gründe, die zur griechischen Kolonisation des Schwarzmeerraumes führten, können nicht eindeutig bestimmt werden. Somit ist es aber auch nicht möglich, sichere Folgerungen chronologischer Art aus eventuellen Ursachen oder Anlässen der Kolonisationsbewegung zu ziehen.


288 Der Umstand, daß die Milesier durch die Verwüstungen ihrer Felder durch die Lyder während des zwölf Jahre dauernden Krieges kaum beeindruckt wurden (Hdt. I 17,2), ließe sich durch eine regelmäßige Nahrungsmittelversorgung durch die Siedlungen am Schwarzen Meer erklären, zumal auch Herodot auf die Seeherrschaft der Milesier hinweist (Hdt. I 17,3). Gestützt auf gesicherte Lieferungen von Lebensmitteln aus dem Schwarzmeerraum könnte somit der explosive Bevölkerungsanstieg erst möglich gewesen sein.
289 Es stellt sich die Frage, wie sich Milet nicht nur aus den Auseinandersetzungen zwischen Lydern und Persern heraushalten konnte, sondern danach sogar besonders gute Beziehungen zu Persien anknüpfte (vgl. Hdt. I 141,4; I 169,2), wenn es durch diesen Friedensschluß Bundesgenosse ("Symmachos") der Lyder wurde. Daß dieses "gegenseitige Freundschafts- und Waffenbündnis" nicht in Kraft trat, begründete K. Tausend damit, daß es "lediglich eine ausschließlich auf die Personen der Herrscher beschränkte Allianz gegeben" habe (Tausend 1992, 95.96).


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