6.1 Zur Chronologie der Kimmerierzüge bei Strabon

Ein bedeutender Unterschied zwischen der Überlieferung des Herodot und der des Strabon ist, daß Herodot nur eine Eroberung von Sardes durch Kimmerier kennt (Hdt. I 15), während Strabon, sich hierbei auf Kallisthenes und Kallinos berufend, von zwei Eroberungen der lydischen Hauptstadt berichtet. Sardes sei zuerst von den Kimmeriern, dann von den vereinten Trerern und Lykiern erobert worden (Strab. XIII 4,8). Die Trerer wiederum bezeichnet Strabon an anderer Stelle als kimmerisches Volk (Strab. I 1,10; XIV 1,40). Wenig sinnvoll scheint es aber, die bei Strabon und Herodot überlieferten Abläufe der Ereignisse derart zu kombinieren, daß man sie jeweils auf den "kleinsten gemeinsamen Nenner" reduziert. So konstruierte etwa W. Tomaschek aus den Angaben dieser beiden Schriftsteller - ohne aber die dabei benutzten Textstellen explizit anzugeben - einen Geschichtsablauf, der nur eine Eroberung von Sardes vorsieht, wobei dieser Angriff aber von Karern unter Lygdamis und Trerern unter Kobos gemeinsam ausgeführt worden sein soll (Tomaschek 1893, 55).

Schenkt man hingegen der Erwähnung von zwei kimmerischen Einfällen nach Lydien Glauben 329, so stellt sich zunächst die Frage, welche der beiden mit der von Herodot berichteten Eroberung von Sardes unter Ardys identisch ist 330. Beachtet man weiter, daß Strabon davon schreibt, daß die Kimmerier "oft" ins westliche Kleinasien einfielen (Strab. I 3,21), so muß man davon ausgehen, daß es eventuell mehr als zwei "kimmerische" Einfälle gegeben hatte, von denen zwei allerdings in Eroberungen der lydischen Hauptstadt Sardes ihre Höhepunkte erreichten und deshalb besondere Beachtung fanden. Die genaue Chronologie dieser "Kimmerierzüge" war aber offensichtlich bereits den antiken Schriftstellern unbekannt.

Ein erster Anhaltspunkt, der eine Chronologie der Einfälle zu entwickeln hilft, ist ein Hinweis des Strabon, daß die Kimmerier auch mit verheerenden Folgen in Phrygien eingefallen seien, weshalb sich der phrygische König Midas durch Trinken von Stierblut den Tod gegeben habe (Strab. I 3,21). Dieser kimmerische Angriff auf Phrygien findet in Herodots Erzählung allerdings keinen Widerhall, obwohl auch Herodot phrygische Könige mit diesem Namen bekannt waren 331, von denen er einen zeitlich vor Gyges ansetzte (Hdt. I 14,2.3). Unklar ist, ob sich der von Strabon berichtete Einfall in Phrygien mit der Nachricht Herodots verbinden läßt, daß die Kimmerier sich nach ihrer Vertreibung durch die Skythen an der Nordküste Kleinasiens in der Stadt Sinope festsetzten (Hdt. IV 12,2) 332. In der lateinischen Übertragung der eusebianischen Weltchronik durch Hieronymus findet sich für den Tod des Phrygerkönigs Midas als Datum das erste Jahr der einundzwanzigsten Olympiade, womit der Einfall der Kimmerier, der den Selbstmord provoziert haben soll, in das Jahr 696 v. Chr. datiert werden könnte 333. Damit wäre allerdings ein Auftreten von Kimmeriern in Kleinasien lange vor dem Zeitpunkt anzunehmen, der sich aus den Angaben des Herodot berechnen ließ, und dieses Auftreten von Kimmeriern fällt deutlich in die errechnete Regierungszeit des Gyges. Allerdings stellen weder Herodot noch Strabon irgendeine direkte Verbindung zwischen den Kimmeriern und dem ersten Mermnaden her.

Wenn man davon ausgeht, daß bereits zur Zeit des Gyges Kleinasien von fremden Völkern bedroht wurde, gewinnt eine weitere Bemerkung Strabons neue Bedeutung. Dieser berichtet, daß Abydos von Milesiern mit Erlaubnis des lydischen Königs Gyges gegründet worden sei, während zuvor an dieser Stelle Thraker gesiedelt hätten (Strab. XIII 1,22). Es ist allerdings unverständlich, daß Gyges, der mit Milet zeitweise im Krieg lag, gerade Milesiern "erlaubt" haben soll, in der Troas eine Kolonie zu gründen, denn Abydos lag an einem bedeutenden militärischen Kreuzungspunkt zwischen Europa und Asien. Möglicherweise war diese erste griechische Siedlung keine "Kolonie" im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr eine Niederlassung bzw. eine Wachstation ionischer und karischer Söldner 334, die hier vom lydischen Herrscher plaziert wurden, um den Hellespont zu bewachen (Roebuck 1959, 112; Huxley 1966, 53).


329 A. Ivancik versuchte archäologische Beweise dafür vorzulegen, daß nur eine Eroberung von Sardes stattfand (Ivancik 1997, 40). Hierbei sollte aber bedacht werden, daß die Eroberung einer Stadt nur dann archäologisch zu fassen ist, wenn diese - wie beim Beispiel der persischen Eroberung Athens ("Perserschutt") - nachweisbare Zerstörungen erlitten hat. Das Vorhandensein von nur einer Zerstörungsschicht im fraglichen Zeitraum kann somit lediglich belegen, daß Sardes nur einmal zerstört wurde, während eine zweite Eroberung nicht ausgeschlossen werden darf.
330 Nach V. Parker ist es "dennoch unsicher, ob es in der Tat eine zweite Eroberung von Sardeis gab", wobei er aber als "entscheidend gegen eine zweite Eroberung von Sardeis" die Aussage Herodots vorbringt, der nur von einer Einnahme der lydischen Hauptstadt weiß (Parker 1997, 73 Anm. 308).
331 Dabei hätte dieser Bericht vom Tod des Midas sicherlich gut zu Herodots oft märchenhaftem Erzählstil gepaßt, zumal auch dieser berichtet, daß der Genuß von Stierblut tödliche Wirkung habe (Hdt. III 15,4).
332 Auffällig ist, daß Strabon in seiner umfangreichen Schilderung Sinopes keine kimmerische Besiedlung dieses Ortes vermeldet (vgl. Strab. XII 3,11).
333 Diese Schlußfolgerung wird allerdings von E.-M. Bossert abgelehnt. Sie kommt zu dem Ergebnis, daß vielmehr das auf die Chronographie des Julius Africanus zurückgehende Datum 675/674 v. Chr. für die Zerstörung der phrygischen Hauptstadt Gordion und den Tod des Midas vorzuziehen sei, weil es sich ihrer Meinung nach besser mit assyrischen Quellen vereinbaren lasse (Bossert 1993, 291.292).
334 Aus assyrischen Quellen geht hervor, daß Gyges seinem Alliierten Psammetichos I. von Ägypten mit Truppen gegen Assyrien zu Hilfe kam. Dabei setzte Gyges wohl ionische und karische Söldner ein (vgl. Hdt. II 152,4).


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