7.4 Zusammenfassung der Ergebnisse

Homers Aufzählung von Stutenmelkern, Milchessern und Abiern in der Ilias und die Annahme, daß seine Erwähnung von Kimmeriern in der Odyssee die früheste namentliche Erwähnung dieses Volkes sei, sind der Anlaß zu den Untersuchungen, die sich mit den homerischen Epen beschäftigen. Eine ins achte Jahrhundert v.Chr. gesetzte bzw. frühere Entstehungszeit der Epen des Homer würde für eine vage Kenntnis der Griechen von den Kimmeriern als Bewohnern einer Landschaft im fernen Nordosten deutlich vor ihrem ersten bezeugten Auftreten in Kleinasien sprechen.

In der modernen Forschung scheint es kaum Zweifel zu geben, daß in den Stutenmelkern Homers das Nomadenvolk der Skythen identifiziert werden muß, womit sie in ihrer Meinung mit den meisten antiken Schriftstellern übereinstimmt. Kaum beachtet ist die Tatsache, daß keine der Dichtungen, die sich mit Reisen entlang den Küsten des Schwarzen Meeres in mythischer Vorzeit beschäftigen - von Aristeas abgesehen -, Kimmerier genau an dem Ort lokalisiert, den sie auch nach dem Bericht des Herodot zu diesem Zeitpunkt eingenommen haben müßten. Durchgehend werden als Bevölkerung der nordpontischen Steppen die Skythen genannt. Keine der Argonautenerzählungen - mit Ausnahme der Orphischen Argonautika - erwähnt auch nur den Namen der Kimmerier. Die dem Orpheus zugeschriebenen Argonautika wiederum versetzen die Kimmerier in eine mythische Nordregion, zusammen mit weiteren Völkern, denen die griechische Mythologie ebenfalls Wohnsitze an den äußersten Rändern der Oikumene zuweist. Diese orphische Schilderung entspricht einer Darstellung der homerischen Kimmerier am "jenseitigen" Ufer des Okeanos. Und so erweist sich die gesamte die Kimmerier erwähnende Nekyia als später orphischer Einschub in die Odyssee. Die zahlreichen weiteren orphischen Elemente in Ilias und Odyssee deuten darauf hin, daß eine entsprechende Nachbearbeitung während der sogenannten Peisistratidischen Redaktion stattgefunden hat. Deren Einordnung in die zweite Hälfte des sechsten Jahrhunderts v.Chr. macht aber deutlich, daß zu diesem Zeitpunkt die "Kimmerier" ein aus Kleinasien bereits bekanntes Volk waren, ebenso wie durch die schon fortgeschrittene Kolonisation des Schwarzmeerraumes die skythische Besiedlung in dessen Küstengebieten nachgewiesen wurde.

Nachdrücklich klingt der Name "Cheimerion" einer an der Mündung des thesprotischen Acheron liegenden Halbinsel an den der homerischen Kimmerier an, wobei dieser Name "Cheimerion" mit den griechischen Vorstellungen von der den Eingang zur Unterwelt umgebenden Landschaft verbunden gewesen scheint und insofern auch Bestandteil der homerischen Unterweltbeschreibung gewesen sein könnte. Es ist somit durchaus denkbar, daß im Rahmen einer Redaktion der homerischen Epen eine absichtliche Abänderung von "Cheimerion" zu "Kimmerion" erfolgte - also der Name der thesprotischen Halbinsel durch den des inzwischen bekannten Reitervolkes ersetzt wurde. Möglicherweise sollte dadurch das östliche Gepräge der Irrfahrten des Odysseus verstärkt werden. Daß man sich gerade in der zweiten Hälfte des sechsten Jahrhunderts v.Chr. bemühte, die Schauplätze der frühen Abenteuer der sagenhaften griechischen Seefahrer in östliche bzw. nordöstliche Meeresgegenden zu verlagern, könnte hierbei mit der spürbaren Verschlechterung der Beziehungen zwischen den Griechen und den Etruskern bzw. den Karthagern im Westen ab etwa der Mitte des Jahrhunderts zusammenhängen. Der griechische Seehandel in das westliche Mittelmeer kam nach der zwischen Phokäern und den verbündeten Karthagern und Etruskern ausgetragenen Seeschlacht bei Alalia im Jahr 540 v.Chr. sogar so gut wie zum Erliegen (Heuß 1962, 200.201; Boardman 1981, 246.252-255; Kimmig 1983, 15.16).

In diesem Zusammenhang kann eine Bemerkung des Strabon an Bedeutung gewinnen, die unter den potentiellen Vorgängern und Lehrern Homers den Aristeas von Prokonnesos nennt (Strab. XIV 1,18). Konkret wird von Strabon an dieser Stelle die Vermutung geäußert, daß Homer möglicherweise die einäugigen Zyklopen der skythischen Mythologie entliehen habe, weil nämlich Aristeas in seinem Gedicht einäugige Arimaspen beschrieben habe (Strab. I 2,10). Ein Redakteur der homerischen Epen in peisistratidischer Zeit müßte jedoch die "Arimaspea" des Aristeas gekannt haben. Die erwiesene geistige Nähe des Aristeas zur pythagoreischen bzw. orphischen Lehre könnte es diesem Bearbeiter der Werke des Homer erleichtert haben, einzelne Elemente dem Gedicht des Aristeas zu entnehmen. Somit könnte der Name der Kimmerier an dieser Stelle benutzt worden sein, um die Vorstellung von fernen nördlichen Gebieten 458, in denen dieser Bearbeiter der Odyssee - gemeinsam mit vielen seiner Zeitgenossen - den Eingang zur Unterwelt zu vermuten scheint, bildhaft zu beschreiben.


458 Damit muß die Verwendung des kimmerischen Namens nicht auf die "historischen" Kimmerier des Herodot verweisen, da die Ionier und die Bewohner des Vorderen Orients anscheinend mit "Kimmerioi" im weitesten Sinne alle fernen West- und Nordvölker bezeichneten (Tomaschek 1881, 1; 1888, 778; 1893, 54).


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