4.1.3 Anmerkungen zu den Quellen des Herodot zur lydischen Geschichte

Für die Bewertung der von Herodot überlieferten Daten ist es wichtig zu wissen, woher Herodot seine Informationen über die lydische Geschichte hatte. Da man nicht a priori davon ausgehen kann, daß er originär lydische Quellen heranziehen konnte, müssen weitgehend seine Erzählungen selbst dazu beihelfen, den Ursprung der Informationen zu klären. Die Behauptung, daß Herodot "lydische Traditionen fast gar nicht benutzt" hat (so Meyer 1954b, 129), kann aber nicht unwidersprochen bleiben. So scheint etwa der Name des Kandaules aus lydischer Quelle zu stammen, da die Griechen zuvor Myrsilos für den Namen des letzten der Herakliden gehalten hatten (Hdt. I 7,1) 99. Auch die Beschreibung des Grabmals des Alyattes, zumal die Erwähnung von Einzelheiten wie fünf auf der Spitze des Grabhügels angebrachte Tafeln mit der Auflistung der zur Erstellung des Grabes aufgewandten Arbeitsleistungen (Hdt. I 93), läßt den Eindruck entstehen, daß Herodot selbst in Sardes war und dort Erkundigungen eingezogen hat. Dieser Eindruck, der durch die von Herodot überlieferte Liste der lydischen Könige zunächst verstärkt wird, muß aber, wie bereits oben angedeutet wurde, durch den aus Herodots Zahlen berechenbaren falschen Ansatz für den Tod des Gyges, wieder verwischt werden 100.

Der einzige Schriftsteller der Mitte des fünften Jahrhunderts v.Chr., von dem man annehmen könnte, daß er offizielle, annalenartige Aufzeichnungen benutzt hat, und der sich wahrscheinlich auch auf derartige Quellen berufen hat, ist der Lyder Xanthos (vgl. Fritz 1967, 97). Aber diese Bearbeitung der lydischen Geschichte, die Xanthos während der Herrschaft des Artaxerxes I. unternommen hat, ist nur bruchstückhaft in der Überarbeitung des Nikolaos von Damaskos, im Lexikon des Stephanos von Byzanz und in den Geographica des Strabon erhalten. Weil sich jedoch kein direkter Einfluß des Xanthos auf den Bericht des Herodot aus den erhaltenen Fragmenten dieser "Lydiaka" nachweisen läßt (Fritz 1967, Anmbd. 72 Anm. 49), muß die Bemerkung des Ephoros, Xanthos sei älter als Herodot und dieser habe von ihm also Anregungen empfangen (Ephor. bei Ath. XII 515 d-e), doch kritisch beurteilt werden (Pearson 1939, 134 Anm. 3; Meyer 1954b, 130 Anm. 1). Dionysios von Halikarnassos setzte den Xanthos in die Zeit kurz vor den Peloponnesischen Krieg bzw. in die Generation des Thukydides (Dion. Hal. Thuk. 5). Interessanterweise findet man bei Xanthos eine neue Methode 101, die aus der Beobachtung gegenwärtiger naturkundlicher oder historischer Erscheinungen versucht hat, Rückschlüsse auf die Vergangenheit zu ziehen (vgl. Erath. bei Strab. I 3,4). Xanthos scheint diese Methode allerdings nicht immer zur kritischen Interpretation der Sagentradition verwendet zu haben, denn nach in einer bereits von Strabon kritisierten Aussage (Strab. XIV 5,29) brachte er auch die Einwanderung der Phryger aus Thrakien nach Kleinasien mit den Folgen des Trojanischen Krieges 102 in Verbindung.

Daß Herodot die Erdbeschreibung des Milesiers Hekataios, den er selbst einen Logographen nennt (Hdt. V 36,2; V 125,1), benutzt hat, ist offensichtlich 103; daß er sie gekannt hat, sagt er selbst eindeutig (Hdt. VI 137,1). In der Überlieferung Herodots nennt Hekataios am Vorabend des Ionischen Aufstandes seinen milesischen Landsleuten "alle Volksstämme, über die Dareios gebot", und er "erklärte ihnen die Größe der persischen Heeresmacht" (Hdt. V 36,2), womit Hekataios zumindest für die geographischen und ethnographischen Angaben über Kleinasien als eine Quelle des Herodot gelten darf (vgl. Jacoby 1912, 2718-2722). Weil Herodot den Archilochos als einen Zeitgenossen des Lyders Gyges nennt, der "in dreifüßigen Jamben" ebenfalls von der Thronbesteigung des Gyges erzählt habe (Hdt. I 12,2), und ihn demzufolge zum Zeugen seines Bericht über die Machtergreifung des ersten Mermnaden macht, ist mit Sicherheit anzunehmen, daß Herodot auch Werke der frühen griechischen Lyriker kannte. Somit könnte die Aussage des Herodot, daß der Zug der Kimmerier sogar bis Ionien vordrang (Hdt. I 6,3), auf einen Lyriker wie Kallinos zurückgehen 104. Allerdings läßt diese äußerst kurz und recht allgemein gehaltene und auch nicht an anderer Stelle der Historien ausführlicher behandelte Aussage über die Auswirkungen des Kimmeriersturms für Ionien, schließlich die Heimat des Herodot, Zweifel am Umfang der Informationen und deren Quellenwert aufkommen. Auf diese Zweifel und auf die Frage nach der zeitlichen Einordnung der frühen Lyriker 105 soll an anderer Stelle ausführlicher eingegangen werden 106.

Zieht man schließlich die von Herodot aufgezählten Ereignisse der lydischen Geschichte selbst zur Analyse heran, so fällt zunächst auf, daß die ionischen Städte thematisch den Ausgangspunkt für die Erzählung bilden und weiterhin von den lydischen Königen Gyges bis Kroisos vor allem über ihre Angriffe auf die griechischen Städte an der ionischen Küste berichtet wird (Fritz 1967, 377), die in der Unterjochung Ioniens durch Kroisos gipfelten (Hdt. I 6.28). Somit ziehen sich die vor allem kriegerischen Kontakte der Lyder mit den ionischen Städten wie ein roter Faden durch diesen Teil der Erzählung, wobei die Auseinandersetzungen mit Milet, das für die Lyder wohl stets eine besondere Rolle gespielt hatte, in der Erzählung Herodots besonders breiten Raum einnimmt. Daß man Milet zur Zeit der Mermnaden als Teil des lydischen Reiches anzusehen hat (Brandenstein 1954, 66), muß aber zumindest für die Zeit vor Kroisos klar verneint werden 107.

Milet ist sicher eine der Städte, in denen Herodot seine Erkundigungen einzog, wobei diese Annahme von ihm selbst ausdrücklich bestätigt wird (Hdt. I 20). Damit könnte Milet, wo spätestens von submykenischer und protogeometrischer Zeit an gesichert auch Griechen siedelten (Boardman 1981, 30; Parzinger 1989), als einer der Orte angesehen werden, an dem Herodot auch "zeitgenössische" Informationen erhalten konnte 108. Auf jeden Fall ist es mehr als wahrscheinlich, daß Herodot in Milet auf eine umfangreiche Sammlung von Informationen über die Verhältnisse in Kleinasien und damit auch Lydien gestoßen ist.

Einen ebenso deutlichen Hinweis auf eine weitere Informationsquelle gibt Herodot, indem er die Bedeutung des delphischen Orakels für die Geschicke der lydischen Herrscher wiederholt betont (Hdt. I 13,1; I 19,2.3; I 48). Auch Apollon selbst, der Gott dieses Orakels, wird in der Erzählung des Herodot bemüht (Hdt. I 87,1.2). Daß Herodot in Delphi war und dort auch über die lydische Geschichte Hinweise sammelte, wird anhand der Beschreibung der lydischen Weihegaben in Delphi klar (Hdt. I 14,1.2; I 50,3). Außerdem berichtet Herodot selbst ausdrücklich von seinem Aufenthalt in Delphi (Hdt. I 20,1). So stammt auch die Information, daß Midas ein phrygischer König vor der Zeit des Gyges war, sicherlich aus dieser delphischen Quelle (vgl. Hdt. I 14,2-4).

Besonders die Erzählungen über Kroisos zeigen deutlich das Bemühen, das Ansehen des delphischen Orakels in hellstes Licht zu setzen. So kann man wohl annehmen, daß diese Geschichte zum Teil der Tempeltradition entnommen ist, die sich in diesem Heiligtum gebildet hatte (Seel 1956b, 228; Schuller 1982, 13) und die man dem Schriftsteller sicherlich bei Betrachtung der Weihegeschenke erzählte. Als O. Seel delphische Tradition indes als Subsidiärquelle Herodots bezeichnete und eine Herleitung aus delphischer Tradition als so gut wie sicher ausschloß (Seel 1956a, 60), wandte er sich ausschließlich gegen "bewußte Erfindung von als unwirklich gekannten Fakten auf Kosten von ihnen selbst und insbesondere den Klienten wohlbekannten, entgegenstehenden geschichtlichen Tatsachen" (Seel 1956a, 64). Damit dürften die delphischen Priester für Herodot nicht nur von gleicher Bedeutung gewesen sein, wie es beispielsweise die ägyptischen für seine Erzählungen über das Land am Nil waren (vgl. Hdt. II 2,5; II 120; II 126) 109, sondern durch ihre Rolle als Informationslieferanten sowohl für griechische als auch für "barbarische" Gebiete kann die Rolle Delphis für die Überlieferung des Herodot kaum überschätzt werden.

Somit können anhand der Angaben Herodots zumindest zwei griechische Städte als Herkunftsorte von Informationen des Herodot ausgemacht werden, die zudem große Bedeutung für die griechische Kolonisation besaßen. Es ist somit auch zu untersuchen, in welcher Zeit diese Nachrichten aufkamen, die Herodot in Milet - und zum Teil auch in Delphi - vorfand. Entscheidend wird somit auch die Frage, wann durch die beginnende Kolonisation des Schwarzmeerraumes das Sammeln von Informationen aus diesen Zielgebieten der Besiedlung notwendig bzw. im größeren Ausmaß möglich wurde und wann vor allem die Milesier, welche die Küsten des Schwarzen Meeres nahezu allein besiedelten, erstmals in die Gebiete am sogenannten Pontos Euxeinos vordrangen 110.


99 Plinius berichtet, daß der lydische König Kandaules den Beinamen Myrsilos geführt habe (Plin. nat. XXXV 55).
100 Für die Stelle, an der Herodot Lyder als Gewährsleute nennt (Hdt. I 94,2), scheinen die von ihnen erhaltenen Informationen lydischem Sagengut zu entstammen. Fraglich ist jedoch, ob man von lydischen Zeitgenossen des Herodot überhaupt "historische" Nachrichten im heutigen Sinne erwarten darf.
101 Diese Methode findet auch, wie im Verlauf der Untersuchung gezeigt wird, bei Herodot Gebrauch.
102 Der Trojanische Krieg wurde in der Antike als feststehendes historisches Ereignis aufgefaßt (vgl. Hdt. II 120).
103 Aber das muß nicht bedeuten, daß Herodot Angaben des Hekataios immer unverändert übernommen hat. Bei seiner Beschreibung Ägyptens kritisiert Herodot ohne Nennung eines bestimmten Namens mehrfach die "Anschauungen der Ioner" (Hdt. II 15-17), wobei jedoch die den Ionern zugeschriebene geographische Dreiteilung der Erde (Hdt. II 16) deutlich auf Hekataios verweist.
104 In einem Fragment, das dem Kallinos zugeschrieben wird, ist das "Herankommen des Heeres der gewalttätigen Kimmerier" geschildert (Frg. 3 D.).
105 Archilochos gilt, weil er den Gyges erwähnt (Frg. 22 D.), als dessen Zeitgenosse. Weil ein weiteres, ebenfalls dem Archilochos zugeschriebenes Fragment als Hinweis auf Kimmerier gedeutet wird (Frg. 19 D.), will man ihn auch zum Zeitgenossen des Homer machen, der in der Odyssee gleichfalls Kimmerier nennt (Hom. Od. XI 14).
106 Vgl. Kap. "6.1.1 Frühe Lyriker als Gewährsleute des Strabon".
107 Der Krieg des Alyattes gegen Milet (Hdt. I 17,1) und die Art des anschließenden Friedens, der Lydien und Milet zu "Freunden und Bundesgenossen" machte (Hdt. I 22,4), zeigt die Sonderstellung Milets. Diese Sonderstellung muß, auch wenn Herodot dies nicht betont, während der Herrschaft des Kroisos fortbestanden haben, weil nachfolgend Kyros mit Milet ein Bündnis "unter den alten Bedingungen der Lyder" schloß (Hdt. I 141,4; I 143,1; I 169,2). Das Besondere dieser Bedingungen wird dadurch deutlich, daß Kyros den übrigen Ioniern, die sich ihm "unter denselben Bedingungen wie einst dem Kroisos" unterwerfen wollten, dies verweigerte (Hdt. I 141,1-3).
108 Auffällig ist dann allerdings, wie wenig Herodot von den Auswirkungen der kimmerischen Feldzüge in seiner Heimat Ionien weiß bzw. wie wenig er davon berichtet.
109 Herodot scheint aber, auch wenn er als vertrauenswürdig eingeschätzte Gewährsleute nennen kann, nicht immer zuverlässig unterrichtet gewesen zu sein. Die Erzählung, daß Cheops einen großen Teil der Summe, die er zur Errichtung seiner Pyramide benötigte, dadurch erwarb, daß er seine Tochter zur Prostitution zwang, klingt unglaubhaft (vgl. Hdt. II 126). An anderer Stelle führt Herodot ägyptische Priester sogar als Gewährsleute für die Eroberung Trojas an, wobei diese ihre Informationen von Menelaos erhalten hätten, der auf der Rückreise von Troja nach Ägypten verschlagen wurde (Hdt. II 118).
110 Auf diese Frage und auf die nach der Rolle, die Delphi und Milet im Rahmen der griechischen Kolonisation insgesamt spielten, wird im Kap. "5 Die Kolonisation des Schwarzmeerraumes" kurz eingegangen.


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