4.2.3 Anmerkungen zu den Quellen des Herodot zum medischen Logos

Herodot eröffnet das erste Buch seines Geschichtswerkes mit der Feststellung, daß "die Gelehrten der Perser [behaupten], an der Zwietracht zwischen Hellenen und Barbaren seien die Phoiniker schuld" (Hdt. I 1,1). Damit gibt Herodot zwar selbst einen Hinweis, daß er auf persische Gewährsleute zurückgreifen konnte, aber es läßt sich nicht genau bestimmen, welche Teile seiner Erzählung auf Perser zurückzuführen sind. Gerade die einleitenden Kapitel aus dem Werk Herodots geben griechisches Sagengut wieder, und die Gründe der Feindschaft zwischen Griechen und Persern werden in einer mythischen Vergangenheit gesucht, die griechischen Vorstellungen entsprungen war. Wir wissen nicht, wieviele Persicae, also Werke über die persische Geschichte, bereits vor Herodot geschrieben worden waren und inwieweit diese für ihn brauchbare Berichte enthielten (vgl. dazu Drews 1973, 29-32). Dennoch könnte Herodot "persische" Informationen von griechischen Vorgängern übermittelt bekommen haben, die somit aber sozusagen bereits "gefiltert" waren. Infolge seiner Nichtkenntnis der Sprachen muß gleichwohl davon ausgegangen werden, daß Herodot weder altorientalische noch ägyptische Texte unmittelbar heranziehen konnte (Meister 1990, 35).

Eine Erwähnung persischer Gewährsleute 142 (Hdt. I 95,1) bezieht sich auf den Teil seiner Geschichte, der von Kyros handelt, aber es ist unsicher, ob damit Herodot diese Zeugen auch für weitere Teile seiner persischen Erzählungen benutzen konnte. Da Herodot zudem selbst mitteilt, daß er auch persisches Sagengut in seinen Erzählungen verarbeitet hat (Hdt. I 122,3), ist es zusätzlich schwierig zu entscheiden, an welchen Stellen er diese Sagen geradezu als historische Überlieferung ausgibt. Die Geschichte des ersten medischen Königs Deiokes, der sich durch die Übernahme und gewissenhafte Ausübung von Richtertätigkeiten für seine medischen Landsleute unentbehrlich machte und deshalb zum König gewählt wurde (Hdt. I 96-97), klingt so zunächst historisch. Die Beschreibung der neu erbauten Hauptstadt Ekbatana hingegen mit ihren sieben Mauerringen, von denen die beiden innersten versilbert bzw. vergoldet gewesen sein sollen (Hdt. I 98,4-6), gleicht eher einem Märchenmotiv. Dabei muß Herodot diese Motive aber nicht nur aus persischen Quellen bezogen haben. Vor Deiokes sollen die Meder in einzelnen Dörfern zerstreut gelebt haben, und in Medien habe Gesetzlosigkeit geherrscht (Hdt. I 96,2). Deiokes beseitigte diesen gesetzlosen Zustand durch Konzentration der Meder in einer Stadt, in deren Zentrum er als König und Richter zugleich residierte (Hdt. I 98,3; I 100). Damit scheint aber gerade diese Erzählung von der Entstehung des medischen Königtums auf sophistische Kreise hinzuweisen, die zu der Zeit, als Herodot schrieb, die Frage nach der Herkunft des Königtums 143 diskutierten (Apffel 1957, 9-23; Aly 1969, 47). Nach sophistischer Theorie erhebt sich nämlich der Mensch aus eigener Kraft von primitiven Anfängen allmählich zu höheren Daseinsformen und baut sich die Welt durch Erlaß von Satzungen auf. Indem mit der Begründung größerer Gemeinschaftswesen, also Städte und Staaten, für dauerhafte Existenzsicherung gesorgt wird, schafft der Mensch die Möglichkeit zu einer weiteren Aufwärtsentwicklung (Müller 1972, 166-171).

In Griechenland kannte man aber nicht die Sitte, nach Königsjahren zu datieren (Boer 1967, 39.40); zudem ist der "Richterkönig" eine typisch altorientalische Einrichtung. Somit dürften die Königslisten, die sich zumindest im Kern auch über andere Quellen bestätigen lassen, auf originär persische Informationen zurückgehen.

Auch bei seiner Beschreibung Babylons beruft sich Herodot wiederholt auf einheimische Quellen (Hdt. I 181,5; I 182,1; I 183,3). Jedoch dürften die Informationen über Babylon, auf die Herodot sich an dieser Stelle bezieht, im wesentlichen den allgemeinen Zustand Babylons zur Zeit des Herodot betreffen (Hdt. I 183,4). Der kurze Abschnitt seines Werkes, der die babylonische Geschichte im Verhältnis zur medischen darstellt, liefert nämlich keine zusätzlichen Informationen, die sich nicht bereits aus medisch-persischen Quellen ableiten lassen und sich zudem - zumindest bei eingehender Überprüfung - als lücken- oder gar fehlerhaft erweisen 144. Ob es aber bei der großen Anzahl der damals noch existierenden assyrischen und babylonischen Dokumente möglich gewesen wäre, durch intensivere Nachforschungen an Ort und Stelle weiterzukommen (Fritz 1967, 376), darf allerdings bezweifelt werden. Abgesehen von der Tatsache, daß Herodot kaum in der Lage war, diese Dokumente selbst zu durchforschen 145, darf nicht vergessen werden, daß gerade die riesige Menge an Informationen es praktisch unmöglich machte, die entscheidenden Daten aus den schier endlosen Auflistungen der Chroniken zu extrahieren, um sie anschließend zueinander in Beziehung setzen zu können.

Letztlich ergibt sich der Eindruck, daß die medischen und persischen Erzählungen des Herodot eine Ansammlung von nicht mehr voneinander zu trennenden sagenhaften Berichten, halbhistorischen Darstellungen und Projektionen geschichtsphilosophischer Vorstellungen bilden, die sich am roten Faden der nach orientalischen Anschauungen wiedergegebenen Königslisten orientieren. Somit muß jedoch bezweifelt werden, daß sich aus den Angaben des medischen Logos eine Relativchronologie entwickeln läßt, die zu eindeutigen Antworten auf Fragen des kimmerischen bzw. skythischen Aufenthalts in Asien herangezogen werden kann.


142 Herodot berichtet uns hier aber auch vom Vorhandensein dreier weiterer, wohl anders lautender Berichte zur Geschichte des Kyros, er gibt allerdings - entgegen seiner sonstigen Gewohnheit - keinerlei Hinweis auf deren Herkunft und Inhalt (Hdt. I 95,1).
143 So ist die Überlieferung einer Diskussion der sieben Perser nach dem Sturz des falschen Smerdis über die beste Verfassung (Hdt. III 80-82) sicher nicht persischen Ursprungs, sondern gibt klar griechische Vorstellungen wieder.
144 So fällt auf, daß Herodot bezüglich der medisch-assyrischen Auseinandersetzungen zwar die Namen der medischen Herrscher und sogar des Skythenkönigs, der den Assyrern zur Hilfe kommt, nennen kann, er aber keinen der assyrischen Könige mit seinem Namen überliefert (vgl. Zawadski 1984, 264.265).
145 Herodot berichtet über die "assyrische Beschriftung" eines bei Byzantion zu seiner Zeit vorhandenen Säulenbruchstücks, die ursprünglich durch eine griechische ergänzt gewesen sein soll (Hdt. IV 87). Wenn man Herodots Angewohnheit berücksichtigt, ihm - teilweise durch Übersetzung - bekannte Inschriften wörtlich wiederzugeben (vgl. Hdt. I 187,2; III 88,3; IV 88,2; IV 91; VII 228,1-3), wird deutlich, daß er oben genannte nicht lesen konnte (vgl. Rollinger 1993, 168). Jedoch gibt Herodot nur einmal explizit an, die Hilfe eines Dolmetschers in Anspruch genommen zu haben (Hdt. II 125,6).


zurück zum
vorherigen Kapitel
zurück zur
HOMEPAGE
weiter zum
nächsten Kapitel