4.3.1.2 Die Sage der pontischen Griechen

Nach einer Erzählung am Pontos lebender Hellenen (Hdt. IV 8,1; IV 10,3) soll Herakles mit den Rindern des Geryones auf seinem Rückweg von der im Okeanos liegenden Insel Erytheia in das zu dieser Zeit noch unbewohnte Skythenland gekommen sein. Während Herakles dort schlief, stahl ein Mischwesen - halb Frau und halb Schlange - die Pferde vom Wagen des Helden 149. Als Herakles auf der Suche nach seinen Pferden im Land Hylaia 150 das schlangenfüßige Mädchen in seiner Höhle traf, versprach diese die Herausgabe der Tiere, wenn er mit ihr schliefe. Aus dieser Verbindung gingen drei Söhne hervor: Agathyrsos, Gelonos und Skythes. Als Herakles nach einer nicht näher bestimmten Zeit - zumindest scheint er die Geburt seiner Söhne erlebt zu haben - Abschied nahm, hinterließ er der Mutter seiner Kinder einen Bogen 151 und einen Gürtel mit der Anweisung, nur den der Söhne, der den Bogen des Vaters richtig spannen und den Gürtel richtig gürten könne, im Land zu lassen. Da nur Skythes 152, der jüngste Sohn, die Prüfung bestand, durfte nur dieser im Land der Mutter bleiben, wo er zum eponymen Ahnherr der Könige der Skythen wurde (Hdt. IV 10,3) 153, während seine beiden Brüder das Land verlassen mußten. Offenbar sah man Agathyrsos und Gelonos - Herodot berichtet dies allerdings nicht explizit - als die Stammväter der Agathyrsen 154 und Geloner 155 an.


149 Von den Rindern des Geryones ist von hier ab keine Rede mehr. Somit vermittelt sich der Eindruck, daß sie nur dazu dienten, diese skythische Episode locker in den Sagenkreis der bekannten Heraklesabenteuer einzubinden.
150 Herodot berichtet an dieser Stelle nichts von einem "Beweis" für diese Geschichte, den er später erwähnt: In der Nähe des heutigen Dnestr zeigte man zur Zeit des Herodot den zwei Ellen langen Fußabdruck eines Menschen, der Herakles zugeschrieben wurde (Hdt. IV 82). Zwar sagt Herodot nicht ausdrücklich, wer diese Fußspur als die des Herakles zeigte, aber man darf der "Herkunft" des Herakles aus der griechischen Sagenwelt entnehmen, daß es Hellenen waren, zumal gerade im Mündungsbereich des Tyras Griechen siedelten (Hdt. IV 51). Damit müßte aber die Umgebung des Tyras als die des bewaldeten Landes Hylaia (Hdt. IV 19; vgl. Plin. nat. IV 83) bestimmt sein. Herodot bezeichnet hingegen an anderer Stelle eine Landschaft östlich des Borysthenes - also des heutigen Dnepr - als Hylaia (Hdt. IV 18,1; IV 54; IV 55).
151 Der sogenannte skythische Bogen galt speziell als Waffe des Herakles (Snodgrass 1984, 165). Noch in römischer Zeit ist der Kompositbogen geradezu Stellvertreter für diesen Heros, wie sich anhand einer Münze des Postumus aus dem Jahr 266/267 n.Chr. belegen läßt: Während auf der Vorderseite die Büste des Postumus selbst zu sehen ist, der durch Keule und Löwenfell gekennzeichnet sich als neuen Herkules feiern läßt, stehen auf der Rückseite Keule, Kompositbogen und Goryt stellvertretend für den griechischen Helden (Robertson 1978, Tafel 24 Nr. 41). Als Bogenschütze wird Herakles auf attischen schwarzfigurigen Vasen gelegentlich auch in skythischer Tracht dargestellt - allerdings nie mit der skythischen Mütze (Boardman 1977, 242).
152 Plinius nennt als den Erfinder von Pfeil und Bogen einen Sohn des Jupiter namens Skythes (Plin. nat. VII 201).
153 Diodoros überliefert von den Kelten, die er an dieser Stelle Galater nennt, eine ähnliche Erklärung ihres Namens. Herakles soll, ebenfalls auf dem Rückweg vom Geryonesabenteuer, durch das Keltenland gekommen sein. Mit der Tochter des Keltenkönigs zeugte er dort den Galates, nach dem schließlich das ganze Land benannt worden sei (Diod. V 24,1-3; vgl. IV 19,1.2).
154 Die Agathyrsen scheinen nach Ansicht Herodots aber keine Skythen gewesen zu sein (vgl. Hdt. IV 100.119.125). Vielmehr sagt Herodot den Agathyrsen Sitten nach, die denen der Thraker geähnelt hätten (Hdt. IV 104). Der von Herodot ebenfalls berichtete Goldreichtum der Agathyrsen (Hdt. IV 104) bewog P. Reinecke dazu, neben seine Wortschöpfung "nordthrakisch-kimmerisch" für eine Gruppe reicher Goldschätze die Bezeichnung "kimmerisch-frühagathyrsisch" zu setzen (Reinecke 1925, 54).
155 Die Angaben Herodots zu den Gelonern sind indifferent. Beispielsweise nennt er im Land der Budiner eine Stadt Gelonos, deren Bevölkerung, die von Hellenen abstammen soll, er als Geloner anspricht (Hdt. IV 108). Allerdings weist Herodot deutlich darauf hin, daß die Budiner der Umgebung - im Gegensatz zum allgemeinen griechischen Sprachgebrauch - nicht mit den Gelonern identisch seien (Hdt. IV 109). Ob Herodot die Budiner als Skythen angesehen hat, ist unklar (vgl. Hdt. IV 21). Jedoch nennt Herodot sowohl Geloner als auch Budiner, anders als die Agathyrsen, als Verbündete der Skythen gegen Dareios (Hdt. IV 119,1).


zurück zum
vorherigen Kapitel
zurück zur
HOMEPAGE
weiter zum
nächsten Kapitel