4.3.1.4 Das Gedicht des Aristeas von Prokonnesos

Die vierte Version des Herodot beruft sich auf ein dem Aristeas von Prokonnesos zugeschriebenes episches Gedicht, in dem dieser Autor von einer Reise berichtete, die er - von göttlicher Raserei ergriffen - unternahm und die ihn bis zu den Issedonen geführt haben soll (Hdt. IV 13,1). Mit diesem Bericht setzt Aristeas eine alte Tradition fort, die seine Erzählung mit den Epen über die Fahrt der Argonauten und über die Irrfahrt des Odysseus verbindet (vgl. Fränkel 1962, 277).

Dem Bericht des Aristeas ist zu entnehmen, daß einäugige Menschen, die Arimaspen genannt wurden, Nachbarn der Issedonen gewesen seien. Die herodotische Deutung des Namens der Arimaspen aus der skythischen Sprache - "arima" = eins und "spu" = Auge (Hdt. IV 27) - lehnte bereits J. Karst als pure Volksetymologie ab und schlug selbst vor, den Namen eher aus dem Armenischen "az-g, azke, az-en" = Geschlecht/Volk abzuleiten (Karst 1931, 583). Nachbarn dieser Arimaspen seien wiederum goldhütende Greifen gewesen. Jenseits dieser Greife soll nur noch das Volk der Hyperboreer gelebt haben, deren Land an ein Meer grenze. Vor einer nicht näher bestimmten Zeit hätten die Arimaspen die Issedonen aus ihrem Land vertrieben, die nun ihrerseits die Skythen verdrängt hätten; die Skythen wiederum sollen schließlich die Kimmerier aus ihrem Land am "Südmeer" verjagt haben. Damit sei der Zustand erreicht gewesen, der in der Gegenwart des Aristeas geherrscht haben muß.

Von diesem "Arimaspea" genannten Gedicht hat sich - abgesehen von der kurzen Schilderung des Herodot - nichts erhalten außer einem halben Dutzend wenig aussagekräftiger Hexameter, die uns der byzantinische Gelehrte Tzetzes überliefert hat (Tzetz. hist. var. VII 687-692). R. Hennig argwöhnte sogar, daß dieser in Verse gebrachte Reisebericht zu Unrecht dem Aristeas zugeschrieben worden sei und ging vielmehr von einem nicht namentlich bekannten Verfasser aus (Hennig 1935, 243) (157). Allerdings gehen fast alle Versuche, das Alter der aus der "Arimaspea" geschöpften Informationen zu bestimmen, von der gesicherten Verfasserschaft des Aristeas aus, dessen Lebenszeit aus den Informationen zum Leben des Dichters, die der Exkurs Herodots über den Aristeas liefert, errechnet werden soll. So überliefert Herodot Berichte aus Prokonnesos von einer siebenjährigen Abwesenheit des Aristeas 158, nach deren Rückkehr er das Gedicht geschrieben habe (Hdt. IV 14), um anschließend erneut zu verschwinden; das setzt die Städtegründungen von Prokonnesos und von Kyzikos, die beide in der Erzählung erwähnt werden, voraus. Im unteritalischen Metapont erzählte man Herodot von einem kurzen Erscheinen des Aristeas, dessen Zeitpunkt Herodot zwar nicht für ein bestimmtes Jahr angibt (Hdt. IV 15), von dem er aber durch Vergleiche in Prokonnesos und Metapont errechnet haben will, daß zwischen dem zweiten Verschwinden des Aristeas in Prokonnesos und seinem Auftauchen in Metapont 240 Jahre vergangen seien (Hdt. IV 15,2).

C. Roebuck machte zum Ausgangspunkt seiner Berechnung der Abfassungszeit der "Arimaspea" die Zeit, in der Herodot in Italien war - also etwa ab der Mitte des fünften Jahrhunderts v.Chr. -, und bestimmte somit das floruit des Aristeas auf etwa 690 v.Chr. (Roebuck 1959, 112). Allerdings berichtet Herodot nicht, daß das Wiederauftauchen des Aristeas in Unteritalien in die Zeit gefallen ist, in der er selbst schon dort war. Vielmehr schildert Herodot, daß er einen zu Ehren Apollons und des Aristeas errichteten Altar "noch heute" besichtigen konnte (Hdt. IV 15,4), zu einem Zeitpunkt also, der sich zwischen 444/443 v.Chr. als Datum der Übersiedlung des Herodot (Lendle 1992, 40) und ungefähr 430 v.Chr. als dem vermuteten Todesjahr Herodots (Fritz 1967, 123 Anm. 79) einordnen läßt. Außerdem muß ein nicht exakt faßbarer Zeitraum zwischen der Errichtung des Altars - und damit dem Auftauchen des Aristeas - und dem Zeitpunkt eingerechnet werden, zu dem Herodot seine Erkundigungen einzog. Somit könnte als Ausgangsjahreszahl einer Berechnung zunächst etwa (437 + X) 159 gesetzt werden. Zudem wurde nach Origines Contra Celsum das Auftreten des Aristeas im unteritalischen Metapont außer von Herodot auch von Pindar erwähnt (Orig. c. Cel. III 26,12), womit mit dem Jahr 446 v.Chr. für das letzte Gedicht des Pindar ein weiterer, jedoch fast identischer terminus ante quem bestimmt werden kann. Das überlieferte antike Gründungsdatum für Metapont (Strab. VI 1,15) kann uns leider keine verwertbare Einschränkung des Zeitraumes für das Erscheinen des Aristeas bieten, da diese Stadt sicher seit dem späten siebten vorchristlichen Jahrhundert bestand (vgl. Boardman 1981, 212).

Setzt man in die neue Gleichung "(446 + X) = Jahr des Aristeas in Metapont" auch nur 20 Jahre für X ein, um einen gewissen Spielraum bis zu einem eventuell früheren Gedicht des Pindar und auch genug Zeit bis zur Verbreitung dieser Aristeas-Erzählung von Italien bis Griechenland zu lassen, so kommt man unter Berücksichtigung der herodotischen 240 Jahre mit der Jahreszahl 706 v.Chr. mindestens an das Ende des achten vorchristlichen Jahrhunderts für die Abfassung der "Arimaspea" 160. Damit wäre der aus den Angaben Herodots berechnete Ansatz für die "Arimaspea" ungefähr mit der ersten Erwähnung der im allgemeinen mit den Kimmeriern gleichgesetzten Gimirrai in Urartu zu synchronisieren 161. Da dies jedoch deutlich früher als Herodots eigener Ansatz für den Einfall der Kimmerier in Asien zur Zeit des Ardys ist, kann Herodot die Zeit des Aristeas also nicht aus dem von ihm selbst erwähnten Einfall der Kimmerier in Kleinasien berechnet haben. Eine derartige Datierung des Aristeas müßte außerdem auch Rückwirkungen auf die Bestimmung der Gründungsdaten von Prokonnesos und Kyzikos haben, für die durchweg Zeitpunkte im ersten Viertel des siebten vorchristlichen Jahrhunderts angesetzt werden, häufig sogar mit der Begründung durch ein sich angeblich aus den Angaben des Herodot ergebendes floruit für Aristeas um 675 v.Chr. (so Ehrhardt 1983, 38.39). Diese Widersprüche und die Annahme, daß Aristeas sein Gedicht nur unter dem Eindruck der die kleinasiatische Staatenwelt bedrängenden Kimmerier geschrieben haben konnte, brachten schließlich auch J.P.D. Bolton zu der die Angaben Herodots ignorierenden Datierung des Aristeas in die zweite Hälfte des siebten vorchristlichen Jahrhunderts (Bolton 1962, 5.179).

Ebenso wie die Datierung des Aristeas unklar ist, kann auch bezweifelt werden, ob er seine Reise überhaupt in der von ihm geschilderten Form unternommen hat (Dodds 1956, 141; Romm 1992, 71). J. Junge vermutete zumindest, daß Aristeas über den Umkreis der griechischen Kolonien an der Nordküste des Schwarzen Meeres nicht weit hinausgekommen sein konnte (Junge 1939, 16). Die angeblich auf das Gedicht des Aristeas zurückgehende Bemerkung des Herodot, daß die Kimmerier unter dem Druck der Skythen ihr Land am "Südmeer" verlassen mußten (Hdt. IV 13), wirft überdies die Frage auf, ob überhaupt von Siedlungsplätzen der Kimmerier an den Küsten des Schwarzen Meeres ausgegangen werden kann. Für Griechen, die wie Aristeas aus Ionien stammten, dürfte diese Bezeichnung eher zur Charakterisierung des östlichen Mittelmeers geeignet gewesen sein. Derartige Überlegungen liegen auch der Behauptung von A.I. Ivancik zugrunde, daß die von Aristeas berichteten, mit den Kimmeriern zusammenhängenden Ereignisse an der Küste des Mittelmeeres in Kilikien lokalisiert werden müßten (Ivancik 1987, 54). Diese These scheint in der Mitteilung des Strabon Bestätigung zu finden, daß ein Anführer der Kimmerier namens Lygdamis in Kilikien den Tod fand, zumal Strabon unmittelbar anschließend an diese Information von der Vertreibung der Kimmerier durch den Skythen Madys berichtet (Strab. I 3,21). Jedoch teilt Strabon an gleicher Stelle auch mit, daß diese Vertreibung erst nach den Angriffen auf Lydien und Ionien stattfand, wodurch sie nicht in direkter Verbindung mit der von Herodot berichteten Verdrängung der Kimmerier aus ihren ursprünglichen Siedlungsgebieten stehen kann. Wegen der Verwendung der Bezeichnung "Südmeer" für das Gewässer, an dem nach der durch Herodot vermittelten Erzählung des Aristeas dieses Land der Kimmerier gelegen habe, muß angemerkt werden, daß Herodot diese Benennung in anderen Fällen sowohl für das Libyen nach Süden begrenzende Meer (Hdt. II 158,4; III 17,1) als auch für den ebenso "Rotes Meer" genannten Persischen Golf verwendet (Hdt. IV 37,1), während er die Benennung "Nordmeer" gelegentlich sogar für das Mittelmeer verwendet (Hdt. II 11; II 158,4; II 159,1; IV 42,2). Folglich scheint diese auf eine Himmelsrichtung zurückführbare Benennung eines Meeres einstweilen zwar nicht dazu geeignet zu sein, eine geographische Einordnung der mit den Kimmeriern verbundenen Ereignisse zu ermöglichen (vgl. Dovatur 1982). Aber sie läßt immerhin Zweifel über die Lokalisierung dieser Ereignisse in den nordpontischen Gebieten aufkommen.

Die Erwähnung von Greifen und Arimaspen war für K. Meuli ein entscheidender Hinweis zu seiner Deutung der Erzählung des Aristeas. Indem er diese als bedeutende Gestalten skythischen Volksglaubens und als Figuren zentralasiatischer Folklore bezeichnete 162, die in einem mythischen Jenseits zu suchen seien, versuchte er das Gedicht des Aristeas als Wiedergabe der Reise eines Schamanen zu erklären, weil jene in die jenseitige Welt zu reisen pflegen. Auf eine derartige "Schamanenreise" scheint zudem zu verweisen, daß der Dichter selbst gesagt haben soll, daß er "von Phoibos ergriffen" zu seiner Reise bis zu den Issedonen aufgebrochen sei (Hdt. IV 13,1). Die ritualisierte Ekstase, also das Heraustreten der Seele aus dem Körper zur Erkundung der Welt, gehört nämlich ebenso zum Schamanismus wie die Jenseitsreisen. So kann man durchaus zu dem Schluß kommen, daß die "Arimaspea" sich nach Inhalt und Form an skythische Schamanenerzählungen angelehnt hat (so Meuli 1935, 158). Diese schamanistischen Reisen ins Jenseits finden allerdings nicht in der Realität, sondern im Geiste statt.

Es ist nicht unmöglich, daß die Öffnung des Schwarzen Meeres für den griechischen Handel und die sich anschließende Kolonisationsbewegung die Hellenen zum ersten Mal in Skythien und möglicherweise schon in Thrakien mit auf dem Schamanismus basierenden religiösen Vorstellungen in Kontakt brachte (Dodds 1956, 142), wobei die Zeit des späten siebten und des sechsten Jahrhunderts v.Chr. in der griechischen Welt eine Periode erhöhter religiöser Empfänglichkeit war (so Dihle 1994, 18.19). Eine tiefere religiöse Bedeutung der "Arimaspea" ließe sich allerdings ebenso aus "rein griechischer Tradition" ableiten (Burkert 1963, 239). Einer mit der Erinnerung an verheerende Kimmerier- und Skythenstürme lebenden Generation könnte dieses erlittene Unheil im Lichte apollinischer Frömmigkeit gedeutet worden sein: In immer neuen Wogen branden die Barbarenhorden heran - hinter den Kimmeriern drängen bereits Skythen, hinter diesen Issedonen, dahinter Arimaspen. Immer stärkere und furchtbarere Wesen bedrohen die Welt der Sterblichen, während das glückliche Land der Hyperboreer für diese unerreichbar hinter einem gewaltigen Gebirge liegt und der Mensch sich in seiner gefährdeten Existenz bescheiden muß (vgl. dazu Pindar Pyth. X).

Bereits im Jahr 1892 wies A. von Gutschmid darauf hin, daß es - selbst wenn man davon ausgeht, daß Aristeas von einer Völkerwanderung erfahren hatte, welche die Skythen in ihre späteren Sitze geführt habe - unmöglich anzunehmen ist, daß die Einwanderung der Skythen erst unmittelbar vor dem ersten Erscheinen der vertriebenen Kimmerier in Kleinasien erfolgt sein könnte, und daß die Inbesitznahme der Steppengebiete durch Skythen vielmehr Jahrhunderte älter gewesen sein muß (Gutschmid 1892, 420). Selbst Aristeas von Prokonnesos als frühester anführbarer griechischer Zeuge berichtet nicht mehr von Kimmeriern in den nördlichen Küstenregionen des Schwarzen Meeres, wo auch er - wenn er wirklich dort gewesen ist - nur Skythen angetroffen zu haben scheint.


157 Auch der Verfasser des dem Longinus zugeschriebenen Werkes De sublimate nennt Aristeas nicht namentlich, sondern schreibt vom "Autor der Arimaspea" (Long. subl. 10,4).
158 Diese sieben Jahre würden für eine Reise von Prokonnesos aus in die Gebiete nördlich des Schwarzen Meeres sicherlich ausreichen.
159 Das Jahr 437 v.Chr. ist hier als das arithmetische Mittel zwischen den Zahlen 444 und 430 eingesetzt. X soll in dieser Rechnung die Zeitspanne wiedergeben, die zwischen dem Auftauchen des Aristeas und der Erzählung des Herodot liegt.
160 Ein ähnliches Ergebnis muß auch eine allein von Angaben des Herodot ausgehende Berechnung ergeben, weil seine Beschreibung der Geschehnisse in Metapont durchaus rechtfertigt, eine durchschnittliche Generation von 30 Jahren als zeitlichen Abstand zu wählen. Selbst wenn man das vermutete Todesjahr des Herodot 430 v.Chr. als Ausgangspunkt wählte, würden die Additionen der 30 und 240 Jahre insgesamt zum Jahr 700 v.Chr. führen.
161 Hier muß beachtet werden, daß eine zeitliche Einordnung der "Arimaspea" nicht zugleich zur genauen Datierung der in ihr beschriebenen Völkerwanderung dienen kann. Es wäre nur ein terminus ante quem definiert, da Aristeas überliefert, daß ihm von den Issedonen bereits vergangene Ereignisse geschildert wurden.
162 Diese Meinung ist jedoch nicht allgemein anerkannt. Mischwesen wie Greife, Sphingen oder Chimären wird auch vorderasiatischer Ursprung nachgesagt (vgl. Tomaschek 1888, 762). Aischylos vereinnahmt die Greifen für die griechische Mythologie, indem er sie als "stumme Hunde des Zeus" bezeichnet (Aischyl. Prom. 803).


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