Exkurs: Hyperboreer und Pythagoras

Die Erwähnung der Hyperboreer macht den Bericht des Aristeas zu einem zentralen Drehpunkt der Überlieferung des Herodot bezüglich der Kimmerier, weil von ihnen ausgehend sich Verbindungen zwischen der herodotischen Erzählung und mehreren weiteren Hauptquellen zur Kimmerierfrage herstellen lassen.

Aristeas soll 240 Jahre nach seinem zweiten Verschwinden aus Prokonnesos in Metapont in Italien erschienen sein (Hdt. IV 15,1). Dies gibt uns möglicherweise den Schlüssel zum Ursprung von Geschichten, welche die Überlieferung Herodots beeinflußt haben könnten. Diese Erzählungen könnten zum "pythagoreischen Kreis" von Legenden gehören, von denen Herodot sicherlich während seines Aufenthaltes in Süditalien Kenntnis erlangte (Burn 1960, 125), zumal Metapont als der Ort, in dem Pythagoras gestorben war, anschließend zum Zentrum seiner Verehrung geworden war (Iust. XX 4; Diog. Laert. VIII 15; Iambl. vita Pyth. 170.249). Auf den Zusammenhang zwischen Aristeas und Pythagoras weist außerdem deutlich eine Bemerkung des Aristoteles hin, der von der Neigung der Pythagoreer berichtet, an "Legenden von Aristeas von Prokonnesos, von dem Hyperboreer Abaris 163 und anderen dergleichen" zu glauben (Aristot. bei Iambl. vita Pyth. 138).

Die Person des Pythagoras war dem Herodot nachweislich bekannt (Hdt. IV 95,1; vgl. Iambl. vita Pyth. 173), womit die Ursprünge der Pythagoraslegenden zumindest in das fünfte vorchristliche Jahrhundert zurückreichen (Dodds 1956, 144; Burkert 1968, 108). Pythagoras selbst kann durch zahlreiche Zeugnisse - auch wenn die aus ihnen errechenbaren genauen Lebensdaten voneinander im Detail abweichen - sicher in das sechste Jahrhundert v.Chr. datiert werden (Diog. Laert. VIII 47; Porphyr. vit. Pyth. 9; Iambl. vita Pyth. 11.35). Aristoteles hat in dem Buch "Über die Pythagoreer", das uns allerdings lediglich in Fragmenten erhalten ist, überliefert, daß dem Pythagoras die Fähigkeit gegeben war, gleichzeitig an zwei Orten zu sein: So sei Pythagoras in Kroton und in Metapont zur gleichen Zeit gesehen worden (Ael. var. hist. 2,26; 4,17). Die Bewohner Krotons sollen Pythagoras für den Hyperboreischen Apollon selbst gehalten haben (Iambl. vita Pyth. 140).

Diese spezielle Gabe der Bilokation - das heißt, an zwei verschiedenen Orten zur gleichen Zeit sein zu können 164,- wird auch den Schamanen nachgesagt (vgl. Dodds 1956, 140), womit sich eine Verbindung zwischen dem "Pythagoreischen Kreis" und dem skythischen Schamanentum herstellen läßt. Aus diesem Grund wird Pythagoras häufig als "Schamane" bezeichnet (so von Burkert 1962, 134). Die Bedeutung des Pythagoras liegt somit in der Frühzeit der hellenischen Entwicklung auf religiösem Gebiet, wobei es heute nicht mehr möglich ist, den Anteil der Pythagoreer von dem der Orphik klar zu trennen (Kern 1935, 144; Waerden 1979, 27.28.119). Bereits Ion von Chios, ein durchaus glaubwürdiger Zeuge des fünften Jahrhunderts v.Chr., war der Meinung, daß Pythagoras unter dem Namen des Orpheus Gedichte geschrieben habe (Diog. Laert. VIII 1,8; Clem. Alex. strom. I 131,4). Es ist sogar offen, ob es überhaupt vor der Zeit des Pythagoras irgendwelche orphischen Gedichte gab (Dodds 1956, 149). So scheint Aristoteles der Auffassung gewesen zu sein, daß ein Dichter mit dem Namen Orpheus in Wirklichkeit niemals gelebt habe und eher ein Pythagoreer namens Kerkops der Urheber aller orphischen Gedichte sei (vgl. Cic. nat. deor. I 107). Letztendlich stellt auch Herodot anläßlich seiner Beschreibung von Ägypten einen Zusammenhang zwischen den Lehren der Orphiker und denen der Pythagoreer her (Hdt. II 81).

Die Beziehung zwischen Pythagoreern und orphischer Dichtung schien sich inhaltlich auch in den sogenannten Orphischen Argonautika niedergeschlagen haben 165. Ebenfalls lassen sich über die Gestalt des sagenhaften Orpheus selbst, der eine Wanderung zur Unterwelt unternommen haben soll, um eine geraubte Seele zurückholen - ein besonders unter Schamanen sehr verbreitetes Motiv (vgl. dazu Dodds 1956, 147) -, Verbindungen zu der die Kimmerier erwähnenden Odyssee Homers herstellen, deren Nekyia, die Totenbeschwörung des Odysseus, durch ihre orphischen Elemente auffällt 166.

Auch die vegetarische Lebensweise ist ein wichtiges Charakteristikum sowohl der orphischen Askese als auch der pythagoreischen Lebensweise (Clem. Alex. strom. VII 32,8; Strab. VII 3,5), und das Bedürfnis nach einer solchen Enthaltsamkeit ist von Anfang an auch in der schamanistischen Tradition vorhanden (Dodds 1956, 154). Hellanikos berichtet aber ebenso von den Hyperboreern, die er jenseits der Rhipäischen Berge ansiedelt 167, daß sie Gerechtigkeit dadurch lernen wollten, daß sie kein Fleisch aßen, sondern sich nur von auf Bäumen wachsenden Früchten ernährten (Clem. Alex. strom. I 72,2). Diese Beschreibung setzt die Hyperboreer in eine direkte Beziehung zu den von Homer genannten "Abiern" 168.

Herodot behauptet von sich selbst, daß er überhaupt nicht an Hyperboreer glaube, wobei allerdings die angegebene Begründung dieser Meinung - die Existenz eines solchen Volkes im höchsten Norden setze auch die eines im äußersten Süden voraus (Hdt. IV 36,1) 169 - nicht überzeugt 170. Auch Strabon wendet sich gegen diese Argumentation des Herodot, indem er den Namen Hyperboreer im Sinn von "nördlichsten Menschen" deutet (Strab. I 3,22) und diese "nördlichsten Menschen" in den Nomaden der pontischen Steppe identifiziert (Strab. I 1,6) 171. Zwar scheint Herodot dadurch, daß er Hesiod und Homer als diejenigen anführt, die auch von den Hyperboreern sprächen (Hdt. IV 32), diese eindeutig in mythische Bereiche zu verweisen. Diesen beiden Dichtern schreibt Herodot nämlich gleichfalls die "Erschaffung" der griechischen Götterwelt zu (Hdt. II 53). Andererseits aber verweist Herodot an anderer Stelle auf Werke des Homer als durchaus glaubwürdige Quellen geographischer und historischer Daten (z.B. Hdt. II 116; IV 29), so daß zumindest dessen Erwähnung nicht unmittelbar als Beleg für eine Ansiedlung der Hyperboreer in utopischen Bereichen gewertet werden kann. Die Erzählungen des Herodot über die Hyperboreer enthalten sogar Angaben, die geradewegs als "Beweise" für deren Existenz gelten können: So konnten auf Delos 172 nach der Bekundung Herodots die Gräber mehrerer hyperboreischer Frauen besichtigt werden (Hdt. IV 4.35). Diese Mischung von scheinbar offener Ablehnung und gleichzeitiger Untermauerung der Mitteilungen zu den Hyperboreern macht aber eine Beurteilung der tatsächlichen Meinung des Herodot zu diesem legendären Nordvolk äußerst schwierig (vgl. Romm 1989) 173.

Merkwürdig ist, daß Herodot an keiner mit den Hyperboreern beschäftigten Stelle seines Werkes auf die Angaben des Pindar zu dem sagenhaften Nordvolk eingeht, obwohl ihm dessen Gedichte anscheinend bekannt waren (vgl. Hdt. III 38). In der dritten olympischen Ode, des Pindar frühestem datierten Lied aus dem Jahre 498 v.Chr. (Fränkel 1962, 561), kommt dieser auf die Hyperboreer zu sprechen und gibt von ihnen eine ausführliche Beschreibung. Pindar erzählt, daß Herakles aus dem Land der Hyperboreer den Ölbaum zu dem bis dahin schattenlosen Wettkampfort Olympia brachte, um dessen Zweige als Siegeszeichen für die von ihm gestifteten Spiele zu Ehren des Zeus zu verwenden (Pind. Ol. III 11-33). Dadurch, daß hier die "schattige Quelle des Istros" in das im Norden vermutete Land der Hyperboreer verlegt wird, werden einerseits die verschwommenen geographischen Vorstellungen von der Lage der Donauquelle und des Verlaufs dieses Flusses deutlich, den die frühe griechische Geographie als nord-südlich gerichtet annahm (Gisinger 1929, 316 Anm. 1). Andererseits lassen sich die späteren Versuche, die Hyperboreer konkret lokalisieren zu wollen, angesichts derartiger geographischer Vorstellungen erklären. Während Herakleidos Pontikos die Meinung vertritt, daß die Gallier, welche unter ihrem Anführer Brennus im Jahr 387 v.Chr. Rom einnahmen, aus dem Land der Hyperboreer gekommen seien, womit er für eine Lokalisierung dieses Landes nördlich Italiens eintritt (Plut. Cam. 22), siedelt Poseidonios die Hyperboreer unmißverständlich in den Alpen an (Schol. Apoll. Rhod. II 675).

Auffällig ist jedoch, daß neben Göttern nur die Halbgötter der Vorzeit wie Herakles dieses Land der Hyperboreer erreichen konnten. Auch Perseus konnte nur mit Hilfe seiner geflügelten Schuhe dorthin gelangen, da man den Weg zu diesem Ort weder mit dem Schiff noch auf dem Lande finden könne (Pind. Pyth. X 29-31), womit eine eventuelle geographische Lokalisierung deutlich relativiert wird. Das Volk "hinter dem Nordwind" - denn dies bedeutet der Name "Hyperboreer" gewissermaßen (vgl. Karst 1931, 361) 174 - wohnt nicht eigentlich in unserer diesseitigen Welt, sondern jenseits von ihr. Und so nennt auch Clemens von Alexandria die Städte der Hyperboreer und der Arimaspen als die Wohnstätten gerechter Völker, um sie anschließend mit einem Hinweis auf den Staat des Platon in himmlischen und somit für den lebenden Menschen unerreichbaren Regionen zu lokalisieren (Clem. Alex. strom. IV 172,3).

Der ursprünglich idealisierte nördliche Erdrand, den man auch als die Heimat der von Homer als "gerechteste Erdbewohner" bezeichneten Abier ansah (Hom. Il. XIII 4-7), wurde aber durch die fortschreitende griechische Kolonisation des Schwarzmeerraumes in der Realität nun zum Land der Skythen 175. Das Anwachsen der erdkundlichen Kenntnisse führte jedoch nicht zu einer Aufgabe der mythischen Nordvorstellungen, sondern vielmehr zu Versuchen, dieses neue Wissen mit den alten Anschauungen zu verknüpfen (vgl. Timpe 1989, 313). Beschränkte sich das ionische Wissen über den "Norden" bis zur Zeit Hesiods auf ein mythologisches Modell, das überwiegend Kenntnisse über die südliche Küste des Schwarzen Meeres widerspiegelte (vgl. Kolev 1986, 314), so mußte anschließend die utopische "Ferne" immer weiter nach Norden 176 zurückweichen, und mit ihr mußte sich das mythische Volk der Hyperboreer sozusagen auch zurückziehen (Gisinger 1929, 327; Delage 1930, 197; vgl. Bichler 1995, 60.110).


163 Herodot nennt den Hyperboreer Abaris eine Sagengestalt, die mit einem Pfeil in der Hand die ganze Welt umwandert habe, ohne etwas zu essen (Hdt. IV 36,1). Iamblichos läßt den Abaris und den Pythagoras in seinem Bericht zusammentreffen, wobei Pythagoras dem Abaris den Pfeil abnimmt und sich ihm als Hyperboreischer Apollon zu erkennen gibt (Iambl. vita Pyth. 140.141). Der Pfeil soll den Abaris zu Reisen durch die Luft befähigt haben (Iambl. vita Pyth. 136).
164 Darauf spielt wohl die Darstellung Herodots an, daß Aristeas gleichzeitig in Prokonnesos und Kyzikos gesehen worden sein soll (Hdt. IV 14,2). G. Huxley versucht allerdings nachzuweisen, daß Aristeas nicht zur selben Zeit an zwei Orten war und lehnt eine Interpretation der Erzählung als Beweis schamanenhafter Traditionen ab (Huxley 1986).
165 Vgl. Kap. "7.2.3.2 Die Orphischen Argonautika".
166 Vgl. Kap. "7.2.2 Orphische Elemente in den homerischen Epen".
167 Im Bericht des Herodot über die Hyperboreer wird das ansonsten mit diesem Volk eng verknüpfte Rhipäische Gebirge allerdings nicht erwähnt. Die Schilderung des Herodot von unzugänglichen Bergen, die sich nördlich der Siedlungsgebiete der als kahlköpfig beschriebenen Argippaier erheben würden und die niemand überschreiten könne (Hdt. IV 25), scheint sich jedoch an die Vorstellungen über die Rhipäen anzulehnen.
168 Vgl. Kap. "7.1.2 Die Abier der Ilias".
169 Die Auffassung des Herodot von der Welt ist insgesamt wesentlich von Symmetrievorstellungen geprägt (vgl. Redfield 1985, 103; Hartog 1988, 14.15). Herodot sucht beispielsweise Symmetrie in der Geographie, wenn er die Donau parallel zum Nil verlaufen läßt (Hdt. II 33-34).
170 Rätselhaft ist, daß Herodot nicht auf den deutlich griechischen Ursprung des Namens der Hyperboreer eingeht, obwohl er im Falle des Eridanos, eines sagenhaften, angeblich ins Nordmeer mündenden Flusses, die hellenische Herkunft des Namens als Beleg für dessen Erfindung angibt (Hdt. III 115).
171 Deshalb zählt Strabon an anderer Stelle Hyperboreer gemeinsam mit Sauromaten und Arimaspen als ursprüngliche Bewohner der nordpontischen Küste auf (Strab. XI 6,2). Dieser Auffassung Strabons folgte auch H. Kothe bei seiner Kartierung der ethnischen Verhältnisse zum Zeitpunkt des skythischen Vorstoßes (Kothe 1969, 14.16 Karte 1).
172 Allerdings kann die Nennung von Deliern als Hauptquelle der herodotischen Informationen zu den Hyperboreern (Hdt. IV 33) zur Unterstreichung der diesem Volk nachgesagten Götternähe und zur Darstellung der besonderen Beziehungen zwischen Hyperboreern und dem Gott Apollon gedient haben. Herodot berichtet sogar von einem Besuch des Apollon im Land der Hyperboreer (Hdt. IV 35,2).
173 Plinius der Ältere, der in seiner Beschreibung der Hyperboreer im wesentlichen derjenigen des Herodot folgt (vgl. dazu Plin. nat IV 89-91), urteilt folgendermaßen: "nec licet dubitare de gente ea - Am Vorhandensein dieses Stammes ist nicht zu zweifeln" (Plin. nat. IV 91).
174 Strabon kritisiert jedoch den Herodot, weil auch er den Namen der Hyperboreer mit der Abwesenheit des Nordwindes bei diesem Volk begründet haben soll (Strab. I 4,22). Plinius hingegen nennt als Sitz des Nordwindes, ebenfalls die Rhipäischen Berge, hinter denen - "si credimus" - die Hyperboreer leben würden (Plin. nat. IV 89).
175 Als die Griechen zur Zeit Alexanders in für sie bisher unerreichbare Gegenden der Welt vordrangen, glaubten sie die Abier Homers in einem als Skythen bezeichneten Stamm identifizieren zu können (Arr. anab. IV 1,1). Allerdings dürfte diese "Entdeckung" der Abier Teil der Propaganda des Alexander gewesen sein, der sich rühmen wollte, seine Heere an die Grenzen der Erde geführt zu haben (vgl. Arr. anab. V 5,2-4).
176 So berichtet Diodoros, daß die Hyperboreer auf einer Insel "nicht kleiner als Sizilien" im nördlichen Meer gegenüber dem Keltenland wohnen würden (Diod. II 47,1). Seine Beschreibung eines "merkwürdigen Tempels von runder Form", der dem Apoll geweiht gewesen sein soll (Diod. II 47,2), läßt an die Kultanlage in Stonehenge denken, zumal die Lage dieser Insel deutlich auf Britannien verweist.


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