7.1.2 Die Abier der Ilias

In der Ilias werden die "Stutenmelker" von Homer gleichsam in einem Atemzug mit den "Abioi", den "gerechtesten Erdbewohnern", genannt (Hom. Il. XIII 4-7). Die Einschätzung Homers dieser Abier als "gerechteste Erdbewohner" steht dabei allerdings im direkten Gegensatz zu der Beschreibung, die den Skythen vielfach widerfahren ist. Dies ist, wie Strabon berichtet, auch dem Erathostenes und dem Apollodoros aufgefallen und erregte deshalb deren Kritik: Homer verschweige aus Unkenntnis die Skythen und deren rohe Sitten (Strab. VII 3,7). Den Skythen wurde nämlich sehr häufig Grausamkeit besonders Fremden gegenüber vorgeworfen, die im Schlachten von Menschen und im Verzehr von Menschenfleisch ihre extremste Formen gefunden haben soll (Strab. VII 3,6.7.9; Hdt. IV 106; Plin. nat. VII 9; Mela II 14). Trotz dieses offensichtlichen Widerspruches wurde wiederholt der Versuch unternommen, diese Abier in Völkern zu identifizieren, die nach und nach in den Gesichtskreis der griechischen und römischen Beobachter gelangten. So erinnert selbst noch der im vierten nachchristlichen Jahrhundert schreibende Ammianus Marcellinus an die oben erwähnten Verse des Homer und nennt Abier, Galaktophagen und Jaxarten als wegen ihrer Sanftheit und Gutmütigkeit rühmliche Ausnahmen zwischen den übrigen, auf Grund ihrer Roheit unzugänglichen Bewohnern Skythiens (Amm. Marc. XXIII 6,62).

Während die Namen "hippomolgoi" und "galaktophagoi" sich gewissermaßen selbst erklären, bereitet die Deutung der Bezeichnung "Abioi" Probleme. Keine inhaltliche Bedeutung im eigentlichen Sinne mißt etwa Alexander Polyhistor diesem Begriff "Abioi" bei, indem er in einem verlorengegangenen Werk über den Pontos Euxeinos versucht, den Namen von einem Wohnsitz am Fluß "Abianos" abzuleiten (Steph. Byz. 6,18-20). Poseidonios hingegen bietet gleich mehrere Möglichkeiten an, diesen von Homer gebrauchten Ausdruck zu interpretieren (Poseid. bei Strab. VII 3,3): einerseits träfe diese Bezeichnung auf die thrakischen Myser zu, die sich nämlich aus Frömmigkeit alles Lebendigen enthielten 378, jeglichen Verzehr von Fleisch ablehnten und sich deshalb nur von Honig, Milch und Käse ernährten. Andererseits gäbe es auch einige Thraker, die ohne Weiber lebten, und deshalb "Habelose" genannt würden. Stephanos von Byzanz zählt in seinem Lexikon zum Stichwort "Abioi" noch weitere Interpretationsmöglichkeiten von ihm ungenannter Gewährsleute auf: einige würden die Bezeichnung "gerechteste Erdbewohner" durch deren Gewaltlosigkeit erklären (vgl. dazu die Überlegungen von Bichler 1995, 185 Anm. 53), während andere auf deren Obdachlosigkeit, also auf ihr nomadisches Leben, anspielten. Auch der Gebrauch des Bogens wird von Stephanos, ohne daß er dies näher erläutert, als möglicher Grund für diese Bezeichnung angeführt (Steph. Byz. 7,11-15). Eine Erklärung für diese Aussage des Stephanos läßt sich daraus ableiten, daß im Wort "bios" eventuell eine sehr alte Benennung der Bogenwaffe selbst zu sehen ist, indem in ihr das Werkzeug zu sehen ist, "mit dem man sich das "biotion", also des Lebens Notdurft, sich jagend verschaffte" (so Jähns 1899, 306). Ein derartiger Wortgebrauch bezüglich der Bogenwaffe läßt sich - wenn auch selten - sowohl in der Ilias als auch in der Odyssee nachweisen (zu den Textstellen vgl. Page 1959, 279). Noch Herakleitos von Ephesos, dessen Blütezeit zwischen 500 und 490 v.Chr. anzusetzen ist, verwandte das Wort "bios" auch in der Bedeutung "Bogen" (Herakleit. Frg. 48) 379.

Die zahlreichen Versuche, die homerischen Abier einer der bekannten Völkergruppen zuzuordnen, führten zu keinem eindeutigen Ergebnis. Zwar bezeichnet Arrianus die Abier unmißverständlich als Skythen (Arr. anab. IV 1,1), aber er folgt mit dieser Feststellung sicherlich der makedonischen Propaganda der Zeit Alexanders des Großen. Die Völker, mit denen die Truppen Alexanders in den nordöstlichen Randgebieten des eroberten Achämenidenreiches in Berührung kamen, wurden als Skythen identifiziert. Indem man aber behauptete, unter diesen Skythenvölkern auch die Abier des Homer entdeckt zu haben, dienten diese als Beweis dafür, daß die Feldzüge des Makedonen bis an die Grenzen der Oikumene 380 geführt hatten, wo letztlich auch die Abier vermutet wurden.

Die Darstellung des Alexanderzuges durch Curtius Rufus unterscheidet sich von der des Arrianus dadurch, daß Curtius, der ebenfalls von legati Abiorum Scytharum berichtet, diese Abier durch deren Verbindung mit dem Tod des Kyros (Curt. VII 6,11) mit den Massageten gleichsetzt, von denen nämlich Herodot berichtet, daß Kyros gegen sie Schlacht und Leben verlor. Somit ist es nicht auszuschließen, daß sich der im sechsten Jahrhundert n.Chr. lebende Stephanos von Byzanz bei seiner Behauptung, daß die Abier ein skythisches Volk seien - auch wenn er sich ausdrücklich auf Homer beruft - von derartigen Nachrichten beeinflussen ließ (Steph. Byz. 6,16; 7,10.11), zumal Stephanos es nicht unterläßt zu erwähnen, daß Didymos, ein bedeutender Lexikograph augusteischer Zeit, sie als ein thrakisches Volk bezeichnet habe (Steph. Byz. 7,3). Diese Einschätzung dürfte allerdings aus den Angaben Homers abgeleitet sein, der die Abier scheinbar in unmittelbarer Nähe von Thrakern angibt (Hom. Il. XIII 4.5). Auch die Erklärung des Poseidonios weist den Abiern eine thrakische Volkszugehörigkeit zu (Poseid. bei Strab. VII 3,3); die einfache Art zu leben, die vermeintlich für diese Namensgebung bestimmend gewesen sein soll, berichtet Strabon allerdings auch von germanischen Völkern (vgl. Strab. VII 1,3).

Die Erklärung, die den Namen "Abioi" im wesentlichen mit Vegetarier gleichsetzt, bietet hingegen die Möglichkeit, dieses sagenhafte Volk des Homer mit den Hyperboreern zu verbinden 381. Hellanikos berichtet von den Hyperboreern, daß sie jenseits der Rhipäischen Berge wohnten und Gerechtigkeit lernen wollten, indem sie kein Fleisch essen würden, sondern von Baumfrüchten lebten (Clem. Alex. strom. I 72,2). Der Name der Hyperboreer, des Volkes "hinter dem Nordwind", läßt sich sogar mit der Nennung der Abier im direkten Anschluß an thrakische Völker verbinden. Thrakien galt nämlich als Heimat des Boreas, des personifizierten Nordwindes (vgl. Hom. Il. IX 5), weshalb die jenseits wohnenden Menschen Hyperboreer genannt werden konnten. Trotz seiner umfangreichen Schilderung der Hyperboreer (vgl. Hdt. IV 33-34) behauptet allerdings Herodot von sich, daß er selbst überhaupt nicht an die Existenz dieses Volkes glaube (Hdt. IV 36,1). Er kennt allerdings ein Volk von Kahlköpfen, das angeblich nur von der Frucht eines Pontikon genannten Baumes leben würde (Hdt. IV 23,2). Diese Argippaier würden außerdem keinerlei Waffen besitzen und wegen ihrer Friedfertigkeit ihren Nachbarn als Schlichter bei Streitfällen dienen (Hdt. IV 23,5; vgl. Mela I 117). Durch die Behauptung, daß die Skythen bei einer Reise bis zu diesen Argippaiern sieben verschiedene Dolmetscher bräuchten, betont Herodot die weite Ferne, in der dieses Volk leben soll (Hdt. IV 24). Die Beschreibung der unzugänglichen Berge, die sich nördlich des Siedlungsgebiets dieser Kahlköpfe erheben würden, und die niemand überschreiten könne (Hdt. IV 25), läßt an die Rhipäischen Berge denken, jenseits derer die Hyperboreer vermutet wurden 382. Es scheint also, als hätte sich auch Herodot, selbst wenn er die Existenz der Hyperboreer leugnet 383, den Vorstellungen von einem weit im Norden lebenden Volk, das sich durch sein besonders frommes Verhalten auszeichnete, nicht ganz entziehen können.

Diese besondere Frömmigkeit zeigte sich vorwiegend im Vegetarismus, der aber auch ein wichtiges Charakteristikum sowohl der orphischen als auch der pythagoreischen Lebensweise gewesen ist (Clem. Alex. strom. VII 32,8; Strab. VII 3,5), wobei es zumindest heute nicht mehr möglich ist, Orphik und Lehre des Pythagoras eindeutig voneinander zu trennen (Kern 1935, 144; Waerden 1979, 27.28). Eine weitere Lebensregel des Pythagoras - nämlich das moralische Gebot des gemeinsamen Eigentums (vgl. Diog. Laert. 22-23) - wurde ebenfalls den nördlichen Nomadenvölkern nachgesagt, wobei selbst von gemeinsamem Besitz der Frauen berichtet wird (Strab. VII 3,7.9; vgl. Hdt. I 216,1; IV 104,1). Somit können die meisten der speziell den nomadisierenden Hirtenvölkern zugeschriebenen Sitten geradezu als orphische bzw. pythagoreische Elemente identifiziert werden 384, und der von "hippomolgoi", "galaktophagoi" und "Abioi" berichtende Abschnitt der Ilias dürfte, zumal er von der übrigen Handlung völlig losgelöst bleibt, aus diesem Grunde ebenfalls als orphischer bzw. pythagoreischer Einschub gelten.

Auch wenn kein direkter Beleg verfügbar ist, der den Einfluß literarischer Vorgänger und Zeitgenossen auf die homerischen Epen zu beurteilen hilft (vgl. Pearson 1939, 2), kann kaum Zweifel daran bestehen, daß im Athen des sechsten Jahrhunderts v.Chr. im Laufe der sogenannten peisistratidischen Redaktion etwas mit den homerischen Texten geschehen ist (Merkelbach 1952, 23; Dihle 1970, 95). Wenn man aber davon ausgeht, daß zahlreiche Abschnitte von Ilias und Odyssee nicht von Homer selbst stammen bzw. nicht in der vermuteten Lebenszeit Homers entstanden, sondern erst zu diesem späten Zeitpunkt hinzugedichtet wurden, so gewinnt dies im Rahmen dieser Untersuchung deshalb eine besondere Bedeutung, weil zu diesen ergänzenden Stücken auch die von den Kimmeriern berichtende Nekyia gehört (Herrmann 1926a, 178.182; Böhme 1991, 253).

Für die Beurteilung des Quellenwertes dieser Einschübe ist es somit wichtig, den Zeitpunkt zu ermitteln, zu dem sie erfolgt sein können.


378 Dieser Deutung des Poseidonios liegt die engste Bedeutung des Wortes "abios", nämlich "ohne Leben", zugrunde.
379 Nun ist der Bogen dem Namen nach Leben, in der Tat aber Tod" (Übersetzung nach Snell 1965).
380 Ziel des Alexander war es anscheinend, "ultima Orientis" zu unterwerfen und seine Armeen zu diesem Zweck "ab Hellesponto ad Oceanum" zu führen, um zuletzt "totius orbis occupandi" (Curt. III 10,4; III 12,18; IV 1,38).
381 Stephanos von Byzanz nennt s.v. "Galeotai" auch einen Zabios genannten "König der Hyperboreer" (Steph. Byz. 196,20).
382 Eben diese Identifizierung findet sich bei Pomponius Mela, der hinter den Bergen allerdings direkt die Küste des Ozeans vermutet (Mela I 117).
383 Die Schilderung der Arimphäer durch Plinius wiederholt fast wortgetreu die Beschreibung der herodotischen Argippaier (Plin. nat. VI 34.35). Plinius bezeichnet die Arimphäer als "den Hyperboreern ähnliches Volk", wobei er in deren nördlicher Nachbarschaft die "Skythen, Kimmerier, Kisianther, Georger und Amazonen" angibt.
384 Strabon bezeichnet den Vegetarismus bei den Geten sogar ausdrücklich als "pythagoreische Sitte" (Strab. VII 3,5; vgl. Iambl. vita Pyth. 173). Bemerkenswert ist zudem, daß er an anderer Stelle Milch und Fleisch bzw. Fisch als gewohnte Nahrung der nomadischen Völker bezeichnet (Strab. XI 2,2; XI 8,7; vgl. Amm. Marc. XXXI 2,18).


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