7.2 Die Kimmerier der Odyssee

Als früheste namentliche Nennung von Kimmeriern gilt gemeinhin ihre Erwähnung in der Odyssee. Auf Empfehlung der Kirke sucht Odysseus von der Insel Aia aus den Eingang zur Unterwelt auf, um dort den blinden thebäischen Seher Teiresias über die Zukunft zu befragen (Hom. Od. X 490-495). Von Aia aus, auf der Kirke lebt, treibt der Boreas - also der Nordwind (Hom. Od. X 506) - das Schiff des Odysseus bis zum Ende des Okeanos 385 (Hom. Od. X 507-511; XI 12.13), wo der Eingang zur Unterwelt liegt. Dort befindet sich nach der Aussage des Homer auch Land und Stadt der Kimmerier (Hom. Od. XI 14-19):

"Dort ist die Stadt der kimmerischen Männer; dunstige Nebel hüllen sie völlig ein, das Volk und die Stadt. Denn niemals dringen des Helios leuchtende Blicke herunter zu ihnen, nicht, wenn zum Himmel mit allen Gestirnen hinauf er den Weg nimmt, nicht, wenn vom Himmel zur Erde er wieder sich wendet zur Rückkehr: Allzeit traurige Nacht überwölbt jene elenden Menschen."

Es wird nicht berichtet, daß Odysseus mit den Kimmeriern in irgendeine Beziehung getreten sei, wie es bei vielen anderen in der Odyssee genannten Völkern der Fall war. Auffallend ist auch, daß Kirke, die dem Odysseus zwar vor Beginn seiner Reise eine detaillierte Schilderung der Verhältnisse am Eingang zur Unterwelt gegeben hatte (Hom. Od. X 509-515), von den Kimmeriern aber nichts berichtete. Und ebenso fällt auf, daß diese Erwähnung der Kimmerier in der Nekyia im Rahmen der homerischen Epen vollständig isoliert steht, denn an keiner Stelle von Odyssee oder Ilias wird dieses Volk ein weiteres Mal genannt. H. Eisenberger äußerte deswegen sogar die Ansicht, daß der Schöpfer der Verse 509 bis 515 des zehnten Gesangs der Odyssee, welche die Beschreibung der Kirke wiedergeben, die Verse des elften Gesangs, in denen die Kimmerier erwähnt werden, weder kannte noch gar selbst geplant haben kann (Eisenberger 1973, 168).

A. Heubeck leitete seinen Kommentar zu den Zeilen 14 bis 19 des elften Gesangs der Odyssee mit der Feststellung ein, daß die Frage nach der Lokalisierung und Identität der Kimmerier nie befriedigend beantwortet worden sei (Heubeck u. Hoekstra 1989, 77). Die Beschreibung der Kimmerier bzw. ihres Landes beschränkt sich auf die Schilderung des dortigen Dunkels und des ständigen Nebels, wobei diese "kimmerische Finsternis" geradezu sprichwörtlich wurde 386. Wenig hilfreich ist die Auslegung H. van Thiels, der diese Stelle der Odyssee damit zu erklären sucht, daß nach der einen Tag dauernden Fahrt über den Okeanos "die Sonne untergeht und es Nacht wird", weshalb die Nekyia nicht etwa im "Dunkelland der Kimmerier", sondern eben nachts stattfinden würde (van Thiel 1988, 145). Wenn die Ankunft des Odysseus auf Aia nach der gelungenen Reise zur Unterwelt als "Rückkehr aus dem Reiche der Nacht" beschrieben wird (Hom. Od. XII 16.17), ist dies ein deutlicher Hinweis darauf, daß dort "ewige Nacht" herrschte.

An dieser Stelle bleibt noch zu bemerken, daß in der Odyssee sicherlich nicht "ausdrücklich" von einer "polis" der Kimmerier die Rede ist (so aber Focke 1943, 208). Diese Formulierung kann kaum als Beweis für die Authentizität dieser Nachricht oder gar als Beleg für die staatliche Organisation dieses Volkes benutzt werden. In der kleinasiatischen Griechenwelt war zur Zeit der epischen Dichtung der Stadtstaat derart verbreitet, daß die Dichter sich schwerlich andere Verhältnisse vorstellen konnten und deshalb diese Staatsform nicht nur auf alle griechischen Stämme, sondern auch auf viele fremde Völker wie die Lästrygonen und nun einmal auch die Kimmerier übertrugen (vgl. Meyer 1954b, 307).


385 Zum besseren Verständnis der antiken Vorstellungen vom Okeanos vgl. das Kap. "7.2.1.2 Bemerkungen zum griechischen Okeanos-Begriff".
386 So benutzt Lykophron das Bild von der "kimmerischen Finsternis" (Lyk. Alex. 1426-1428; vgl. dazu die Anmerkungen von Holzinger 1895, 374), um die von Herodot anläßlich seines Berichtes über die Schlacht an den Thermophylen überlieferte Anekdote, daß sich - würden alle persischen Bogenschützen ihre Pfeile gleichzeitig abschießen - die Sonne verdunkeln würde (Hdt. VII 226), anschaulich zu beschreiben.


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