7.2.1.2 Bemerkungen zum griechischen Okeanos-Begriff

In der homerischen Dichtung tritt das Wort "Okeanos" oft auf. Aber es bezeichnet dort weder ein Meer noch einen Meeresteil, sondern einen gewaltigen Strom (Hom. Il. XVIII 607.608), der die Erde umfließt und damit die Landmassen der Erde begrenzt (vgl. Hom. Il. XIV 200.201; Hom. Od. XX 65). Zum Weltmeer im heutigen Sinne wurde der Okeanos hingegen erst im Laufe der Ausweitung der geographischen Kenntnisse (Lesky 1947, 58; Fränkel 1962, 113 Anm. 11). Die Frage nach den griechischen Vorstellungen vom Okeanos gewinnt im Rahmen dieser Untersuchung durch den Umstand verstärkt Bedeutung, daß in der Odyssee die Kimmerier in einem Land am jenseitigen Ufer des Ringflusses anzutreffen sind. Aber auch die nicht mit den Kimmeriern im unmittelbaren Zusammenhang stehenden Partien der homerischen Epen und die Argonautengeschichten, welche von Fahrten über diesen Okeanos berichten, erfordern diese Erörterung zum griechischen Okeanos-Begriff.

Eine Beschreibung, wie man sich diesen Okeanos vorstellte, liefert uns Herodot 404, der von sich selbst indes behauptet, daß er an die Existenz des Ringflusses nicht glaube. Vielmehr sei der Okeanos eine Erfindung des Homer oder eines anderen, noch älteren Dichters (Hdt. II 23), und nur der Sage nach würde der Okeanos vom Aufgang der Sonne aus rings um die Erde fließen (Hdt. IV 8,2). Diese Vorstellung von den Grenzen der Erde ist sicherlich in die Gestaltung erster Erdkarten eingeflossen, was durch Herodots spöttische Berichte über diese frühen kartographischen Versuche bestätigt wird: Die Zeichner solcher Karten hätten den Okeanos regelmäßig wie einen Kreis um die Erde herumfließend gezeichnet (Hdt. IV 36,2). Die Beschreibung des vom Schmiedegott Hephaistos für Achilleus neugeschmiedeten Schildes, der mit einer die ganze Welt umfassenden bildlichen Darstellung verziert gewesen sein soll, kann als Bestätigung dafür gelten, daß auch die Vorstellung des Homer vom Okeanos ein kreisrunder, die Erde umfassender Fluß war (Hom. Il. XVIII 606.607), wie ihn gleichfalls Hesiod geschildert hat (Hes. theog. 790).

Die nicht aus der griechischen Sprache ableitbare Benennung "Okeanos" für den Ringfluß läßt darauf schließen, daß auch der griechischen Vorstellung vom Okeanos phönizische Berichte zugrunde lagen (Hennig 1932, 7). Der Wortstamm og = ogeg soll nämlich deutlich semitisch sein und bedeute "das einen Kreis (og) bildende Gewässer" (so Lewy 1895, 208). Eine Mitteilung Clemens' von Alexandria bestätigt, daß auch bei den Israeliten die Vorstellung von einem die Erde begrenzenden Ringfluß vorherrschte (Clem. Alex. strom. VI 87,4). Diodor berichtet, daß die Chaldäer, wie er die Bewohner Babyloniens nennt, sich die Erde in der Form eines umgekehrten, also innen hohlen, runden Kahns vorstellten, der auf dem Weltmeer schwamm (Diod. II 31,7).

Anaximander von Milet war im sechsten Jahrhundert v.Chr. der erste Grieche, der eine die gesamte Erde zeigende Karte entwarf (Eratosth. bei Strab. I 1,11; Agathemeros I 1). Der Umstand, daß die griechischen Vorstellungen von einem die Erde ringförmig umgebenden Fluß zweifellos auf vorderasiatische Ideen zurückgingen, erzwingt die Frage, ob die griechischen Kartographen auf orientalische Vorbilder zurückgreifen konnten. Eine derartige babylonische Landkarte, auf der die gesamte damals bekannte Welt dargestellt ist, findet sich auf einer im Besitz des British Museum befindlichen Steinplatte (Peiser 1889, 369; Cuniform Texts 1906, pl. 48). B. Meissner identifizierte diese Karte als neubabylonische Kopie eines wohl "deutlich älteren Originals" (Meissner 1925a, 378; 1925b, 99), wobei es dieser Einschätzung allerdings an eindeutigen Beweisen mangelt (Dilke 1985, 13).

Auf der Karte ist das im Zentrum liegende Babylonien als völlig vom (nâru) marratu = "Bitterfluß" genannten Okeanos umschlossen dargestellt (Peiser 1889, 366). Die Kritik, die Herodot an den ionischen Karten übt (Hdt. IV 49), läßt vermuten, daß diese kaum anders als diese Darstellung der Erde ausgesehen haben. Sie werden sich wohl nur durch die Wahl eines anderen Erdmittelpunktes unterschieden haben, als den die Griechen lange Delphi ansahen (vgl. Agathemeros I 2; Strab. IX 419). Auf der Karte sind Städte und Länder jeweils durch einen Kreis angedeutet, in dessen Mitte zumeist der Name steht. Vom nördlichen "Gebirge" her fließt der Euphrat und ergießt sich in der Landschaft Bît-Jâkin in "Sümpfe". F.E. Peiser schloß aus dieser Erwähnung von Bît-Jâkin, daß das Original, von dem diese Karte kopiert sein soll, kaum vor dem neunten vorchristlichen Jahrhundert entstanden sein könne (Peiser 1889, 368). Die Chaldäer, zu denen der Stamm der Bît-Jakîn gerechnet wird, sind nämlich in babylonischen Quellen zur Zeit des Assurnasirpal II. von Assyrien um 878 v.Chr. zum ersten Mal bezeugt (Frame 1992, 36). Diese Bît-Jakîn waren gegen Ende des achten Jahrhunderts v.Chr., als Feldzüge der Assyrer die Chaldäer bedeutend schwächten, der wichtigste chaldäische Stamm. Zwischen 689 und 627 v.Chr. wurde ihr Name allerdings nur noch zweimal schriftlich erwähnt, um danach nicht wieder in schriftlichen Zeugnissen aufzutauchen (Frame 1992, 40.42). Somit würde diese Erwähnung von Bît-Jâkin für eine Datierung der Karte zwischen 878 und 627 v.Chr. sprechen. Da aber nicht bewiesen werden kann, daß auf dem Original der Name Bît-Jâkin ebenfalls erwähnt wurde, kann für diese Vorlage durchaus ein wesentlich höheres Alter vermutet werden.

Außerhalb des durch den "Bitterfluß" gebildeten Kreises liegen mehrere Dreiecke, deren Basis je durch ein Kreissegment des Ringflusses gebildet wird. Fünf solche Dreiecke, die sich durch die in ihnen stehende Bemerkung als nagû = "Inseln" ausweisen, sind erhalten; aus der Anordnung im Kreis läßt sich ihre ehemalige Gesamtzahl allerdings auf insgesamt acht errechnen. Von "Inseln" kann man zuerst in Deuterojesaia lesen, worunter nach altem Sprachgebrauch neben Inseln auch Küstenländer verstanden werden (vgl. G. Hölscher 1949, 23). Auf Vorder- und Rückseite der Steintafel geben Texte Erklärungen zur Karte, wobei auf der schlecht erhaltenen Rückseite sich auch Beschreibungen der acht "Inseln" finden, die alle als unwirtlich und für ihre Besucher gefährlich geschildert werden (Meissner 1925b, 98). Die Entfernungen zwischen den "Inseln" sind jeweils in Doppelstunden 405 angegeben, wobei der Abstand zwischen den beiden "nördlichsten" 406 mit sechs Doppelstunden vermerkt ist. Bei der "rechten" dieser beiden "Inseln" ist zudem bemerkt, daß dort "die Sonne nicht zu sehen sei" (vgl. Peiser 1889, 366; Meissner 1925a, 379).

Diodoros überliefert von den Chaldäern, daß diese sich die Erde in Form eines umgekehrten Bootes vorgestellt hätten (Diod. II 31,7). Über die Form der auf dem Euphrat benutzten Schiffe berichtet nun Herodot, daß sie kreisrund und ganz aus Leder waren (Hdt. I 194,1), wobei derartige runde, korbähnliche Boote heute oft mit ihrem arabischen Namen Quffa bezeichnet werden (De Graeve 1981, 85). Somit stellten sich die Babylonier die Erde anscheinend in Analogie zum Himmel, der als Halbkugelgewölbe galt, in Form eines umgestülpten, auf dem Weltmeer schwimmenden Rundbootes vor (Meissner 1925a, 107; Müller 1972, 15).

Ausgehend von diesem Weltbild schloß A. Herrmann, daß ein an der nördlichen Wölbung der Welt gedachter Ort niemals von der Sonne bestrahlt werden kann, weil diese selbst mittags noch südlich von Babylon bleibt (Herrmann 1926a, 191). Die Nennung eines von der Sonne nie beschienenen Ortes auf der Karte könnte eine Verbindung zu den homerischen Epen herstellen, weil Homer auch ein am Okeanos liegendes Gefilde erwähnt, zu dem "niemals dringen des Helios leuchtende Blicke" (Hom. Od. XI 15.16). Zur Bestätigung, daß den homerischen Epen ein dem babylonischen vergleichbares "gewölbtes" Weltbild vorschwebte, kann zudem angeführt werden, daß sich auf diese Weise das für den Okeanos oft benutzte Beiwort "tiefströmend" erklären ließe (so Hom. Il. VII 422; XXI 195; Hom. Od. XI 13), weil dieser Ringfluß dann tiefer als die übrige Erde liegend vorgestellt werden muß (Herrmann 1926a, 192). Indem nun von allen acht außerhalb des Ringflusses liegenden sogenannten "Inseln" - unabhängig von der Himmelsrichtung - Unwirtlichkeit und Gefahren für mögliche Besucher dieser Gebiete behauptet wurde (Meissner 1925b, 98), lassen sich außerdem Verbindungen zu der Darstellung in der Theogonie Hesiods herstellen, welche die Ufer des Okeanos als mit zahlreichen Ungeheuern besiedelt beschreibt.

Mit der medisch-persischen Eroberung der Staaten des alten Orients seit dem Ende des siebten vorchristlichen Jahrhunderts gelangten diese Vorstellungen vom Okeanos sicherlich auch in die Gedankenwelt der neuen Herrscher. Die Idee eines die Welt begrenzenden Ringstromes gewann aber mit der fortschreitenden achämenidischen Expansion eine neue Bedeutung, weil die Auffassung, daß die Welt mit dem Okeanos 407 fest begrenzt sei, den persischen Herrschern die Fiktion der Weltherrschaft ermöglichte (vgl. hierzu Miltner 1952). Nach der Unterwerfung der ionischen Stadtstaaten durch die Perser dürfte die junge ionische geographische Forschung etwa ab der zweiten Hälfte des sechsten Jahrhunderts v.Chr. sicherlich von derartigem persischem Gedankengut beeinflußt worden sein. Die von Herodot erwähnten Versuche früher ionischer Geographen, die Gestalt der Erde unter Annahme eines sie begrenzenden Ringstroms zu erklären (Hdt. II 21; IV 36), könnten von einer Neubelebung der Okeanosidee unter persischem Einfluß angeregt worden sein.


404 Anlaß für Herodot, die Vorstellungen vom Okeanos zu besprechen, ist die Erörterung von Erklärungsversuchen der alljährlichen Nilschwelle (Hdt. II 19-21), denn ein namentlich nicht erwähnter Hellene erkläre diese durch eine Verbindung zwischen Nil und Okeanos (Hdt. II 21.23). Das ist sicherlich ein Hinweis auf Hekataios, der die Argo über den Nil vom Okeanos in das Mittelmeer gelangen läßt (Schol. Apoll. Rhod. IV 257-262b).
405 Eine Doppelstunde entspricht 10.629 Metern.
406 Auffällig ist, daß dieser Karte eine moderne Vorstellung der Nordrichtung zugrunde liegt. Vgl. aber auch Fußnote 465.
407 Eine "Beweisführung" erfordert den Nachweis, daß die Welt auf allen Seiten von Wasser umgeben ist. So berichtet Herodot von einem persischen Versuch, Afrika zu umschiffen (Hdt. IV 43).


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