7.2.2 Orphische Elemente in den homerischen Epen

Diodoros berichtet, daß die ägyptischen Priester unter den Griechen, die Ägypten besucht hätten, Orpheus, Pythagoras und Homer aufgezählt hätten (Diod. I 96,2). Außerdem überliefert Diodoros, daß Orpheus seine Mysterien den ägyptischen Totenriten nachempfunden habe (Diod. I 96,4.5). Auf Zusammenhänge zwischen ägyptischen Vorstellungen von Tod und Unterwelt und den orphischen bzw. pythagoreischen Lehren 408 wies im übrigen ebenso Herodot hin (Hdt. II 81; II 123). Die enge Verbindung von orphischer Lehre und griechischer Jenseitsvorstellung kann schon daran erkannt werden, daß dem Orpheus nachgesagt wurde, daß er in die Unterwelt hinabgestiegen sei, um von dort seine verstorbene Frau Euridyke zurückzuholen (vgl. Eur. Alk. 357-359; Verg. Aen. VI 119.120). Eine derartige Reise zur Unterwelt unternahmen ansonsten nur außergewöhnliche Helden göttlicher Abstammung wie der Zeussohn Herakles (Hom. Il. V 395-397). Diodoros zitiert die zweite Nekyia (vgl. Hom. Od. XXIV 1.2.11-14), um darauf aufmerksam zu machen, daß orphische bzw. ägyptische Vorstellungen von der Unterwelt auch in diese homerische Beschreibung eingeflossen seien müssen (Diod. I 96,6-9) 409. Deshalb liegt die Vermutung nahe, daß auch die erste Nekyia, die von der Fahrt des Odysseus zum Eingang der Unterwelt berichtet, ebenfalls unter orphischem Einfluß entstanden ist.

Die orphisch bzw. pythagoreisch beeinflußten Jenseitsvorstellungen spiegeln sich in den sogenannten Goldplättchen oder Totenpässen wider, die den Toten mit ins Grab gegeben wurden, um ihnen selbst als Wegbeschreibung in der Unterwelt und den Totengöttern gegenüber als "Erkennungsschein" zu dienen (Capelle 1968, 41 Anm. 5). In Hipponion, dem heutigen Vibo Valentia in Kalabrien, wurde im Grab einer Frau das bisher älteste Goldplättchen gefunden, das in die Zeit um 400 v.Chr. datiert wird (West 1975, 229). Der auf diesem Plättchen stehende Text gibt eine Beschreibung des Hades und Verhaltensregeln für die Tote wieder (Burkert 1977, 436), die denen auf den anderen Plättchen auffallend gleichen (Capelle 1968, 41-43; West 1975, 229). Anweisungen, wie er sich auf seiner Reise zur Unterwelt verhalten solle, gab Kirke auch dem Odysseus (Hom. Od. X 505-540). Die Aufforderung der Kirke, die Seele des toten Sehers Teiresias zu befragen (Hom. Od. X 490-495), ist zudem verständlicher, wenn man berücksichtigt, daß die Pythagoreer den Umgang von Lebenden mit den Geistern Verstorbener als etwas ganz Gewöhnliches betrachtet haben sollen (Iambl. vita Pyth. 139). Somit dürfte schon die Idee, einen verstorbenen Seher nach der Zukunft zu befragen, von orphischer Seelenlehre beeinflußt sein.

In der Eingangspartie der Nekyia finden sich deutliche Konkordanzen zu Werken des Hesiod (vgl. Böhme 1983, 33). Die homerische Beschreibung der niemals von der Sonne beschienenen Kimmerier findet ihre direkte Entsprechung in Hesiods Beschreibung der am Tartaros gelegenen Wohnung von Schlaf und Tod (Hes. theog. 758-760):

"Und dort haben der Nacht, der finsteren, Kinder ihr ständiges Haus, Schlaf und Tod, gewaltige Götter. Und niemals blickt auf diese beiden nieder Helios, der leuchtende, mit seinen Strahlen, steigt er am Himmel empor oder steigt er vom Himmel herab."

Daß die Kimmerier nicht integraler und damit unverzichtbarer Bestandteil der Vorstellungen von den Grenzen der Erde am Okeanos sind, läßt sich durch einige Zeilen aus Hesiods Gedicht "Werke und Tage" belegen (Hes. erg. 526-529):

"Denn nicht weist ihm die Sonne die Trift, daß er gern sich aufmacht; sondern zu Volk und Gemeinde von dunkelhäutigen Menschen macht sie die Runde, und kurz nur leuchtet sie rings den Hellenen." 410

Anstelle des Namens der homerischen Kimmerier setzt Hesiod hier "dunkelhäutige Menschen", womit er die gleichfalls am Okeanos angesiedelten Aithiopier beschreibt (vgl. dazu Hom. Il. I 423.424; XXIII 205-207). Der Name der Aithiopier - "Brandgesichter" - läßt sich von ihrer Nähe zur Sonne ableiten, die ihre Haut verbrannte 411. Somit erscheinen das "kimmerion" Homers und das hesiodische "kyaneon" als austauschbare Wörter (Böhme 1983, 33.34).

Zwar stehen sich die Aithiopier und die Kimmerier inhaltlich konträr gegenüber 412 - denn während die einen geradezu zuviel Sonneneinwirkung verspüren, wird den anderen ein Leben in ständiger Abwesenheit der Sonne nachgesagt -, aber beide Völker werden in einem mythischen Übergangsbereich angesiedelt, in dem Tag und Nacht sich begegnen. Die Beschreibungen der Triften der Nacht und des Tages sind Teil alter kosmologischer Grundvorstellungen: dort befinden sich auch die Grenze und der Übergang zur jenseitigen Welt, und in diesen Grenzbereich gehört ebenso der Okeanos, der folglich zum Scheidestrom zwischen Dies- und Jenseits wird (so Böhme 1991, 235). Zwar verleitete die Vorstellung, daß die Griechen an ein jenseitiges Ufer des Okeanos geglaubt haben sollen, beispielsweise A. Heubeck zu der heftigen Verneinung "non-existant!" (Heubeck u. Hoekstra 1989, 78), und W. Karl lehnte "die Existenz eines jenseitigen, den Okeanos von außen begrenzenden Gestades" mit der Begründung ab, daß diese "die Einheit des mythischen Weltbildes" sprengen würde (Karl 1967, 98) 413. Hesiod läßt jedoch den Halbgott Herakles unmißverständlich den Okeanos überqueren (Hes. theog. 289-294), wobei auf der anderen Seite des Okeanos "dämmrige Weiden" liegen (Hes. theog. 294). Somit dürfte die ewige Finsternis, in der die Kimmerier nach der Beschreibung Homers leben müssen, Ausdruck griechischer Jenseitsvorstellungen sein. Das Land der Kimmerier liegt nämlich ebenfalls am jenseitigen Ufer des Okeanos, also bereits im Land der Toten (Hom. Od. XI 13.14.155-159). Diesen fest geprägten Vorstellungen konnte sich beispielsweise auch Ovid nicht entziehen, der das Homerzitat von den Kimmeriern mit der Vorstellung eines Hauses von Schlaf und Tod direkt verbindet (Ov. met. XI 592-596):

"Liegt im kimmerischen Land dort weit im Innern des Berges tief eine Grotte, das Haus und Gemach des lässigen Schlafes. Nie mit seinen Strahlen, nicht morgens, mittags noch abends kann es Phoebus erreichen, dort dampfen düstere Nebel aus dem Boden empor, und es herrscht dämmerndes Zwielicht."

In diesem Zusammenhang direkt vergleichbare Verse finden sich zudem in der Odyssee zu Beginn des Abenteuers bei den Lästrygonen: "Denn nicht weit sind die Triften der Nacht und des Tages entfernt" (Hom. Od. X 86). Die geradezu wortwörtliche Parallele in Versen des Parmenides 414 sowie auch weitere Entsprechungen in der homerischen Ilias und im Werk Hesiods (Hom. Il. VIII 13-165; Hes. theog. 748-754) machen deutlich, daß in diesen Teil der Erzählung gleichfalls Vorstellungen über an den Ufern des Okeanos lebende mythische Völker eingeflossen sind. Hesiod gibt in seiner Theogonie unterdessen einen sehr deutlichen Hinweis darauf, daß sich diese Bereiche einer konkreten geographischen Lokalisierung entziehen, indem er diesen "Raum" folgendermaßen beschreibt (Hes. theog. 736-739):

"Und dort sind der dunklen Erde und des dunstigen Tartaros, des unfruchtbaren Meeres und des gestirnten Himmels, a l l e r   n e b e n e i n a n d e r 415, Quellen und Grenzen, schaurig und modrig, ein Raum, den selbst die Götter mit Abscheu meiden."

Somit muß auch jeder Versuch, die geographische Lage dieses frühgriechischen Jenseits bestimmen zu wollen 416, unvermeidlich scheitern, weil die am Okeanos - zumal an dessen jenseitigem Ufer - gelegenen Orte, zu denen geographisch auswertbare Angaben zu existieren scheinen, am Okeanos alle "nebeneinander" liegen 417. Aus diesem Grunde äußerte U. Hölscher die Meinung, daß man bei der Behandlung dieser mythologischen Themen "sich dem Denken in Modellen entsagen" müsse (U. Hölscher 1988, 154.155). Weder die homerischen Angaben zu den Lästrygonen noch die zu den Kimmeriern lassen sich somit geographisch auswerten, und deshalb können diese Beschreibungen auch weder das Wissen um die niemals untergehende Mitternachtssonne noch um den dunklen Winter im Norden beinhalten. Und dadurch können diese Angaben auch nicht als eindeutiger Beleg dafür angeführt werden, "daß die Kimmerier aus dem hohen Norden gekommen waren", wie es oft geschehen ist (Berger 1904, 15; vgl. Hennig 1926b).


408 Bei Iamblichos finden sich deutliche Hinweise, daß Pythagoras von den Orphikern beeinflußt wurde (Iambl. vita Pyth. 146.147.151).
409 Herodot berichtet vom ägyptischen Pharao Rhampsinitos, daß er lebendig in die Unterwelt hinabgestiegen und wieder zurückgekehrt sei (Hdt. II 122).
410 Vgl. dazu das entsprechende Homerzitat in Kap. "7.2 Die Kimmerier der Odyssee".
411 Der Mythos lokalisierte die Aithiopier "zweigeteilt" jeweils im äußersten Westen und Osten, am Aufgangs- bzw. Untergangsort der Sonne (vgl. Hom. Od. I 22-24). Diese Einordnung muß nicht bedeuten, daß man sich dieses Volk "auf zwei Gebiete verteilt am Südrand der Erde" vorstellte (so Dihle 1994, 11). Jedoch wurde das mythische Volk im Laufe der erweiterten Weltsicht zum Volk am Südmeer in Libyen (Hdt. III 17,1), dessen schwarze Hautfarbe aber ernstlich durch übergroße Hitzeeinwirkung erklärt wurde (vgl. Hdt. II 22). Zum Aithiopenlogos des Herodot vgl. auch Hofmann u. Vorbichler 1979.
412 Hesychglossen, welche die Worte "kammeros" bzw. "kemmeros" in der Bedeutung von "dunkel" und "dunstig" interpretiert benutzen (Heubeck 1963, 492; U. Hölscher 1988, 154), erlauben es, eine Verbindung zu dem karischen kammara mit der Bedeutung "Qualm", "Rauch", "Dunst" oder "Wolke" herzustellen (Neumann 1961, 31.32). Im entsprechenden Zusammenhang läßt sich das Wort kammara außerdem passender mit "Schatten" bzw. "Dunkelheit" umschreiben (Neumann 1961, 32; Heubeck 1963, 492). Eine derartige etymologische Herleitung ihres Namens läßt die Kimmerier der Odyssee geradezu als "Dunkelmänner" erscheinen (U. Hölscher 1988, 114), hilft aber keine Verbindung zu den Aithiopiern herzustellen.
413 Die Verneinung des Vorhandenseins eines jenseitigen Ufers des Okeanos steht im Gegensatz zu der an gleicher Stelle gegebenen Beschreibung des Okeanos als "die Erdscheibe umfließenden ... Ringstrom" (Karl 1967, 98): die Bezeichnung "Strom" impliziert geradezu die Existenz eines jenseitigen Ufers.
414 Parmenides beschreibt eine Reise, die ihn in himmlische Gefilde geführt haben soll: "Dort ist das Tor, durch das die Pfade von Tag und Nacht gehen. Türsturz und steinerne Schwelle umfassen es" (Frg. 1,11.12).
415 Sperrung durch Verf.
416 Beispielsweise benutzte A. Dihle die Erwähnung der Kimmerier in der Odyssee, um den Eingang zur Unterwelt an dem Ost- bzw. Nordostrand der Erde zu bestimmen (Dihle 1994, 11).
417 In diesen Zusammenhang muß wohl auch ein Fragment aus einem der Werke des Hesiod gesetzt werden, das Aithiopier, Libyer und stutenmelkende Skythen in einem Satz nennt (Hes. Frg. 150 MW; vgl. Strab. VII 3,7) und die Verfolgung der Harpyien durch die beiden Boreaden beschreibt. Die Jagd geht bis zum Ende der Welt, wo diese Völker gleichsam "neben" Hyperboreern und Lästrygonen zu finden sind. Allerdings sind diese Völker alle am diesseitigen Ufer des Okeanos zu finden, während das jenseitige Ufer sich der menschlichen Erkenntnis zu entziehen scheint (vgl. dazu Buchheim 1994, 59-61).


zurück zum
vorherigen Kapitel
zurück zur
HOMEPAGE
weiter zum
nächsten Kapitel