8.2 Bemerkungen zu den "Nordvölkern" des Alten Testaments

Auch ohne das konkrete Vorhandensein von Namensähnlichkeiten werden Stellen der Septuaginta herangeführt, die über die Anwesenheit von Kimmeriern oder Skythen im palästinischen Raum Auskunft geben sollen. So sieht auch W. Nagel beim Propheten Jesaja (vgl. Jes. 5,26-29) einen "Widerhall des Kimmeriersturmes" (Nagel 1982, 33), und S.V. Machorytch will den Gebrauch von Wagen bei den Kimmeriern "wahrscheinlich" machen, indem er die gleiche Beschreibung im Buch Jesaja als Quelle heranzieht (Machorytch 1991, 71):

"Ein Panier pflanzt er auf für ein Volk aus der Ferne und pfeift es herbei von den Enden der Erde. Und siehe, in Eilmärschen kommt es heran. Kein Müder ist darunter und kein Matter; keiner schlummert, und keiner schläft. Kein Gurt löst sich von seinen Hüften, kein Riemen zerreißt an seinen Schuhen. Geschärft sind seine Pfeile und seine Bogen gespannt. Wie Kiesel sind die Hufe seiner Rosse und gleich dem Sturmwind die Räder seiner Wagen" (Jes. 5,26-28).

Wen da aber der Prophet Jesaja dem Volk Israel als Vollstrecker der Strafe Gottes ankündigte, wird in der Septuaginta wenig später explizit mitgeteilt: "Wehe Assur, dem Stock meines Zornes, der Rute, die mein Grimm schwingt!" (Jes. 10,5). Die im Buch Jesaja geschilderten Ereignisse lassen sich zwar durch den auch historisch bezeugten Feldzug des Assyrers Sanherib in den palästinischen Raum (vgl. Jes. 36.37) an das Ende des achten Jahrhunderts datieren (Soden 1962, 103.104; Kraus 1962, 298), aber sie lassen sich nicht als Zeugnis für die Anwesenheit von Kimmeriern oder Skythen in Palästina oder als Beweis für das Wissen über diese Völker im palästinischen Raum verwenden. So benutzte R. Liwak sogar die oben angeführten Zeilen des Buches Jesaja, indem er argumentierte, daß die Nennung von Streitwagen ein gewichtiges Argument dafür sei, daß der "Feind aus dem Norden" auf keinen Fall die Skythen sein könnten, weil die sonstige literarische Überlieferung keine Streitwagen 464 der Skythen kennen würde (Liwak 1987, 235).

Auch im Buch Jeremia werden weder Kimmerier noch Skythen namentlich erwähnt, wie überhaupt das ganze Alte Testament keine geschichtliche Situation ausdrücklich mit ihnen verknüpft (vgl. dazu Lauha 1943, 22.23; Liwak 1987, 137). Daß berittene Bogenschützen nicht automatisch als Reiternomaden interpretiert werden dürfen, kann außerdem aus Hinweisen im Buch Jeremia erschlossen werden, wo von "bogenspannenden Lydiern" berichtet wird (Jer. 46,9). Es zeigt sich außerdem, daß man in Palästina, wenn man von Ländern im Norden sprach, nicht die Steppen Südrußlands meinte, auch wenn F. Schmidtke den Ursprung von Gomer durchaus in diesen nordpontischen Steppen suchte (Schmidtke 1933-1934, 64). Der geographische Horizont der Israeliten war deutlich begrenzt, wie der aller Völker, die nicht durch Seefahrt oder Eroberung mit entlegenen Ländern in Berührung kamen (vgl. G. Hölscher 1949, 7). Gemeint waren vielmehr näher gelegene Gebiete, die nördlich des eigenen Landes lagen; deutlich wird in diesem Sinne das Land am Euphrat als ein Land des Nordens bezeichnet (Jer. 46,10). Noch deutlicher wird der Prophet Jeremia, wenn er den Führer des "Nordvolkes" nennt: Er meint Nekukadnezar, den König von Babel (Jer. 46,24.26), und der Israelit rechnete zu den Ländern des Nordens sogar die nahe gelegenen Länder Syrien und Phönizien (Lauha 1943, 16). Die Vorstellungen der Bewohner Palästinas vom Umfang der Erde scheinen kaum weit über das Gebiet Syriens und seiner übrigen Grenzländer hinausgereicht zu haben. Dies läßt sich auch aus den Namen, mit denen der Israelit die vier Himmelsrichtungen benannte 465, entnehmen: So bezeichnete er den Norden mit "Zaphon" nach einem Berg in Syrien, dessen Name durch Nennung in Texten aus dem Ruinenhügel Ras es-Samra bekannt geworden ist (G. Hölscher 1949, 14). Der geographische Horizont der Juden scheint sich bis zur Zeit der Perserherrschaft nicht wesentlich erweitert zu haben, was sich in den Zusammenstellungen von Völkernamen niederschlug (vgl. Jes. 11,11; Jer. 25,18-26). Die Völker Kleinasiens wohnten "im äußersten Norden", und im Nordosten war Persien die äußerste Grenze der bekannten Erde; der persische Eroberer Kyros kam "vom Norden" und "vom Aufgang der Sonne" (Jes. 41,25; 46,11).

Ob Jeremia mit den Skythen, einige Jahre bevor er einen babylonischen Angriff befürchtete, bereits eine andere Macht vor Jerusalem erwartet hat, über deren Gefährlichkeit und über deren vereinzelte Bewegungen im syrisch-palästinischen Raum er - zumindest nach der Ansicht R. Liwaks - durchaus unterrichtet gewesen sein könnte (Liwak 1987, 250.251), ist nicht eindeutig belegt worden. Zudem ist auch die Ausdehnung der skythischen Machtentfaltung in Asien bis zum heutigen Tag unklar geblieben (vgl. dazu Vaggione 1973). Die prophetischen Verkündigungen des Jesaja, die - ohne explizite Nennung eines bestimmten Volkes - lediglich in der Aussage über die Herkunft des angekündigten Feindes "aus dem Norden" oder der Beschreibung als berittene Bogenschützen übereinstimmen (vgl. Jer. 4,6.13.29; 5,15.16; 6,1-4.22.23; 10,22), deutete H. Bartke unter Verweis auf einen Abschnitt des zweiten Buchs der Könige der Septuaginta (2. Kön. 24,2) als deutliche Hinweise auf chaldäische, aramäische, moabitische und ammonitische Streifzüge in Juda (Bartke 1937, 2). Der Leser des Buches Jeremias erfährt von einem namentlich genannten Feind aber dort, wo vom "König von Babel" die Rede ist (so Jer. 20,4), der später als "Nebukadnezar, der König von Babel" eindeutig identifiziert (Jer. 21,2-4; 22,25; 25,9) und mit den Chaldäern verbunden genannt wird (vgl. Bardtke 1937, 2; Liwak 1987, 221).

K. Bittel war überzeugt, daß Kimmerier gemeint sind, wenn bei Ezechiel "Gomer und alle seine Truppen" (Ez. 38,6) genannt werden (Bittel 1950, 92). Ezechiel war als Angehöriger der judäischen Oberschicht wohl 598 v.Chr. nach Babylonien deportiert worden, wo ihn die Berufung zum Propheten erreichte (Kraus 1962, 316). Nach dem Bericht des Ezechiel lebte ein Herrscher namens Gog im Lande Magog und war Fürst in Rosch, Meschech und Tubal (Ez. 38,2). Zu den Verbündeten dieses Gog zählten Paras, Kusch, Put, Gomer und Bet-Togarma (Ez. 38,5.6). Ob es sich bei Gog um den Lyder Gyges handeln kann, von dem Herodot berichtet und der nach assyrischen Nachrichten im Kampf gegen "Kimmerier" getötet wurde (so Brandenstein 1954, 65), ist höchst zweifelhaft. Auffallend aber ist die mögliche Verbindung zum Buch Genesis, wo unter den Söhnen Japhets Gomer, Tubal 466 sowie Meschek und unter den Söhnen Gomers Togarma genannt werden (Gen. 10,1-3). Josephus sieht in Togarma den Stammvater der Togarmäer, die er als Phryger identifiziert (Ios. ant. Iud. I 6,1), während J. Karst im "Haus Togarma" eine "geläufige Redensart" für Armenien und die Armenier erkennen wollte (Karst 1931, 72).

Zwar scheint die Nachricht Ezechiels von einer militärischen Niederlage Gogs (Ez. 39,2-5) eine Parallele zur Niederlage des Gyges gegen die "Kimmerier" darzustellen, aber weitere Angaben zu Gog und Magog verbieten diese Gleichsetzung. Gog wird mit seinen Soldaten auf den Bergen Israels vernichtet (Ez. 39,4), und als Ort seines Grabes nennt Ezechiel das Tal Abarin, das danach den Namen "Tal von Hamon-Gog" getragen haben soll (Ez. 39,11). Das Land Magog wird als Land am Meer beschrieben (Ez. 39,6), und gleichzeitig gilt der äußerste Norden als Wohnsitz des Gog (Ez. 38, 15). Wenn den Juden zur Zeit des babylonischen Exils die Ereignisse um den Lyderkönig Gyges bekannt waren, so konnten sie kaum dem Fehler verfallen, ihn in Palästina den Tod und sein Grab finden zu lassen. Die vage Lokalisierung von Magog im fernen Norden läßt auch andere Interpretationen wahrscheinlich werden, denn der Norden besaß für die Juden eine besondere Bedeutung. Während alle Sterne am Himmelsgewölbe kreisen, scheint nur der Nordstern unbewegt. Und weil er der einzige feste Punkt des Himmelsgewölbe zu sein scheint, hielten die Juden den Norden für eine göttliche Himmelsrichtung, in der auch die himmlische Wohnung Jahwes zu finden sei (Vogt 1981, 5). Und ebenso wie die Vision des Ezechiel sich ihm in einem aus dem Norden kommenden Sturmwind zeigte (Ez. 1,3.4), galt der Norden ebenso als die Richtung, aus der die Vollstrecker des göttlichen Gerichts am israelitischen Volk zu erwarten waren (Lauha 1943, 72) 467. So finden sich Gog und Magog in der Offenbarung des Johannes auch unter den vom Teufel verführten Völkern, die von den vier Ecken der Erde zur apokalyptischen Schlacht herangeführt werden, wohl um auf diese Weise die entferntesten heidnischen Völker zu nennen (Apk. 20,8). Auf die Verbindung des Wortes Gog mit der durch die Tell-Amarna-Briefe bekannten Bezeichnung Gâg(aja) für Nordländer hatte bereits H. Gunkel hingewiesen (Gunkel 1910, 153). Wenn allerdings unter den Gomer des Ezechiel (Ez. 38,6) dennoch "Kimmerier" zu verstehen wären, so ließe sich ihre Erwähnung als Verbündete des Gog kaum mit einer Identifizierung dessen mit dem Lyder Gyges vereinbaren 468.

Daß die Beschreibungen von Kriegern aus dem Norden es im Einzelfall kaum erlauben, Rückschlüsse auf bestimmte Völker zu ziehen, zeigt der Vergleich zweier Stellen der Septuaginta, von denen eine dem Volk Israel den Angriff eines Feindes als Strafe Gottes ankündigt (Jer. 6,22.23) und die andere den Untergang Babylons sowie die damit verbundene Befreiung des jüdischen Volkes aus der babylonischen Gefangenschaft prophezeit (Jer. 50,41.42):

"So spricht Jahwe: Siehe ein Volk kommt aus dem Lande hoch im Norden, ein gewaltiges Volk macht sich auf von den Enden der Erde her. Sie führen Bogen und Lanze, grausam sind sie und ohne Erbarmen. Ihr Lärmen gleicht dem Rauschen des Meeres. Auf Rossen reiten sie daher, jeder Mann ist zum Kampfe gerüstet gegen dich, Tochter Zion!" (Jer. 6,22.23).

"Siehe, ein Volk kommt von Norden her und eine gewaltige Völkerschaft, und mächtige Könige setzen sich in Bewegung von den äußersten Winkeln der Erde her. Sie führen Bogen und Lanze. Grausam sind sie, ohne Erbarmen. Ihr Lärmen gleicht dem Rauschen des Meeres. Auf Rossen reiten sie daher, ein jeder Mann ist gerüstet, Tochter Babel" (Jer. 50,41.42).

Obwohl diese beiden Stellen fast identisch sind, kann die eine nur die Eroberung Jerusalems durch das babylonische Heer meinen, während die zweite auf die Einnahme Babyloniens durch den Perser Kyros anspielt, den bereits Jesaja seinem Volk als Befreier "angekündigt" hatte (Jes. 45,1-4).


464 Es ist allerdings wichtig, auf den Unterschied zwischen dem Einsatz von Streitwagen als Kampfmittel und der Verwendung von Wagen als Transportmittel hinzuweisen, denn diese Verwendung von Wagen ist bei den Skythen auch durch schriftliche Quellen bezeugt (vgl. Hes. Frg. 151 MW; Hdt. IV 121).
465 Man orientierte sich bei der Anordnung der Himmelsrichtungen nach dem Aufgang der Sonne, so daß die Ostrichtung "vorne", die Westrichtung "hinten", der Süden "rechts" und der Norden somit "links" gedacht war.
466 Der Name Tubal wird zudem im Zusammenhang mit der Metallverarbeitung genannt. Tubal-Kain heißt nämlich ein Sohn Kains, der Stammvater der Erz- und Eisenschmiede wurde (Gen. 4,22).
467 Diese Vorstellung könnte aber dadurch gefördert worden sein, daß eben die meisten Angreifer wie Assyrer und Babylonier wirklich aus Norden kamen.
468 W.W. How und J. Wells bezeichneten es zwar auch als "merkwürdige Verwechslung", daß gerade Gyges, ein "Opfer der Kimmerier", als "Fürst von Meschech und Tubal" quasi als Anführer der Eindringlinge genannt wird, hegten aber keinerlei Zweifel daran, daß diese Stelle des Alten Testaments eine deutliche Spur "dieser frühen Vandalen und Hunnen" - gemeint sind Kimmerier und Skythen - sei (How u. Wells 1957, 62).


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