8.1 Die Völkertafel des Buches Genesis

Schon im Jahre 1855 machte K. Neumann auf eine Stelle im Buch Genesis aufmerksam, die "uralte Vorstellungen über die Verwandtschaft der Völker aufbewahrt hat" (Neumann 1855, 115). Nach der biblischen Darstellung kann die Geschichte der Menschheit in zwei große Phasen unterteilt werden: in eine vor- und eine nachsintflutliche Phase. Aus dem Zeitabschnitt vor der Flutkatastrophe konnte sich nur Noah mit seiner Familie in den nachsintflutlichen hinüberretten, wobei Japhet als der zweitälteste Sohn Noahs genannt wird. An oben angesprochener Stelle wird unter den Söhnen Japhets auch der Gomer genannt (Gen. 10,2.3; vgl. 2. Chr. 1,5), wobei zahlreiche Interpreten der biblischen Geographie darin übereinstimmen, daß unter diesem Namen die Kimmerier verstanden werden müssen 459 (Neumann 1855, 115; Gunkel 1910, 152; Lauha 1943, 22; Brandenstein 1954, 63). W. Brandenstein wollte in dieser Völkertafel außerdem geographische und politisch-historische Prinzipien erkennen (Brandenstein 1954, 59). Neben einer Unterteilung in einen südlichen, einen mittleren und einen nördlichen 460 Bereich wird aus dem genealogischen Aufbau der Völkertafel - die Völker sollen durch die Söhne des Noah repräsentiert werden bzw. durch deren Nachkommen - geschlossen, daß die Aufzählung auch das Nacheinander von Völkern wiedergeben sollte. Die Schwierigkeiten bei der Auswertung geographischer Angaben in altorientalischen Quellen hat aber bereits E. Weidner dargelegt, indem er die Mangelhaftigkeit der geographischen Anschauungen im alten Orient aus dem Fehlen von Karten erklärte (Weidner 1952, 1). Somit müssen die Angaben über Lage, Größe und Himmelsrichtung mit größter Vorsicht benutzt werden, und die Überprüfung der alten Angaben anhand einer modernen Landkarte muß als geradezu unmöglich gelten. Die Übertragung moderner geographischer Vorstellungen auf alte Beschreibungen wird dabei bereits durch unklare Übersetzungen erschwert. Daß unsere "moderne" Nordrichtung nicht unbedingt ihre Entsprechung im Hebräischen findet 461, zeigte A. Lauha anschaulich (Lauha 1943, 8-14). Auf entsprechende Probleme bei der Betrachtung babylonischer Quellen hatten zuvor bereits auch P.V. Neugebauer und E.F. Weidner hingewiesen (Neugebauer u. Weidner 1931-32). Dennoch werden in den Japhetiten zumeist kleinasiatische Völker und deren östliche Nachbarn identifiziert (Dhorme 1932; Lauha 1943, 22-30). Die Nachkommen des Japhet waren Gomer, Magog, Madai, Jawan, Tubal, Meschek und Tiras, wobei als die Söhne Gomers Aschkenas, Riphat und Togarma genannt werden (Gen. 10,1-3). In der ersten Gruppe identifizierte W. Brandenstein Völker des Nordostens, nämlich die Kimmerier (= Gomer), die Skythen (= Magog) und die Meder (= Madai) (Brandenstein 1954, 63) 462, wobei die Völkertafel den Gomer als ersten der Söhne des Japhet nennt, was ihn als ältesten der Brüder kennzeichnen soll. Mangels anderer sicherer Datierungsansätze versucht man aus der Aufzählung selbst Rückschlüsse auf die Zeit der Niederschrift dieser Genesis-Stelle zu ziehen. Ob aber - da Gomer, Magog und Madai als Brüder bezeichnet werden - damit eine Zeit bestimmt werden kann, in der Kimmerier, Skythen und Meder gleichberechtigt waren (Brandenstein 1954, 63), kann bezweifelt werden 463. Allein schon die Erwähnung von Söhnen des Gomer zeigt, daß diese Liste mit Gomer, Magog und Madai - und damit die Folge von Völkern - nicht abgeschlossen ist. Somit scheint es unklug, ein Datum, das man aus einer bestimmten Relation zwischen diesen Namen gewinnt, als Zeitpunkt der Niederschrift zu bestimmen. Zudem kann die Identifizierung dieser Völker in der Liste nicht als sicher gelten. So ist auffällig, daß die biblische Benennung Magog als Bezeichnung der Skythen kaum Entsprechungen findet, zumal die Skythen selbst und auch die Nachbarvölker andere Bezeichnungen verwendeten. Dies versuchte W. Brandenstein damit zu erklären, daß es sich bei Magog um einen Ausdruck handeln müsse, der in der Nähe von Israel entstanden sei (Brandenstein 1954, 64). Eine andere Möglichkeit zur Identifizierung der Magog hatte allerdings bereits A. Lauha vorgeschlagen, der diese als "eines jener typischen Völker des geheimnisvollen Nordens, die auch in ihrem historischen Schleier im Grunde unhistorisch sind", bezeichnete (Lauha 1943, 25), und der in Aschkenas, dem Sohn des Gomer, die Skythen wiedererkennen wollte (Lauha 1943, 23).


459 Wenn man den Namen Gomer hier mit den Kimmeriern in Verbindung bringen will, so muß aber auch an eine andere Stelle der Bibel erinnert werden. Gomer heißt gleichfalls die Frau des Propheten Hosea (Hos. 1,3), der in die Mitte des achten Jahrhunderts v.Chr. gesetzt wird.
460 Den Hamiten wurde der südliche, den Semiten der mittlere und den Japhetiten der nördliche Bereich der den Juden damals bekannten Welt zugerechnet.
461 Dies trifft im übrigen auch für griechische Quellen wie das Werk des Herodot zu. Dieser schreibt, daß er über die Völker "nördlich" von Thrakien keine sicheren Informationen erhalten konnte. Nur von den Sigynnern konnte er erfahren, daß deren Siedlungsgebiet bis zur Adria reichen würde (Hdt. V 9). Somit muß aber "Norden" hier "Nordwesten" bedeuten.
462 Damit folgte W. Brandenstein nur teilweise den Erklärungen des Flavius Josephus. Josephus sieht zwar in Magog auch den Stammvater der Skythen, die zuvor Magoger geheißen hätten, und in Madai identifiziert er den Ahnherren der Madäer, die von den Griechen Meder genannt werden. Aber mit Gomer verbindet er die Galater, deren ursprünglicher Name Gomarenser gewesen sein soll (Ios. ant. Iud. I 6,1).
463 W. Brandenstein wollte daraus ein recht präzises Datum um 600 v.Chr. gewinnen, weil in dieser Zeit die Meder die Skythenherrschaft bereits abgeschüttelt hätten und daher wieder unabhängig geworden waren. Sicher sind damit die drei genannten Völker, soweit sie sich überhaupt so exakt trennen lassen, nicht gleichberechtigt.


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