9 Untersuchungen zu Quellen des Alten Orients

Die Quellen des Alten Orients können im Rahmen dieser Arbeit nicht derart umfangreich untersucht werden, wie zuvor die antiken Quellen erörtert wurden. Eine ebenso ausführliche Behandlung würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, ohne aber entscheidend zum Hauptziel dieser Studie - Klärung der Zusammenhänge zwischen den schriftlich bezeugten Kimmeriern und der sogenannten "thrako-kimmerischen" Fundgruppe - beisteuern zu können. Die Texte des Alten Orients dürfen jedoch nicht unkommentiert übergangen werden, besonders weil nicht selten auf die Übereinstimmungen zwischen den Darstellungen griechischer Schriftsteller und den Aussagen der vorderasiatischen Keilschrifttexte hingewiesen wird (so etwa Gold 1984, 15). Hierbei wird häufig versucht, die sich bei der Auswertung einer der beiden Quellengruppen ergebenden Lücken dadurch zu füllen, daß "punktuell" auf die Ergebnisse der Untersuchungen zur jeweils anderen zurückgegriffen wird. Dabei versäumen es die Fachwissenschaftler 469 häufig - auf die Autorität der Kollegen der jeweiligen Nachbarwissenschaften vertrauend -, die Art der Erkenntnisfindung im jeweils fremden Fachgebiet zu überprüfen.

A. Ivancik äußerte kürzlich die Ansicht, daß "bei der Erforschung der schriftlichen Zeugnisse über die Kimmerier ... die akkadischen Texte Vorrang" haben (Ivancik 1997, 15). Den "Vorrang" dieser Texte gegenüber den "klassischen Quellen" begründete er damit, daß sie zu Zeiten direkter Kontakte von Assyrern und Kimmeriern verfaßt wurden, weshalb er sie als "im höchsten Grade glaubwürdig" bezeichnete. Den Hauptunterschied zwischen diesen über die Kimmerier Auskunft gebenden schriftlichen Zeugnissen läßt Ivancik jedoch unerwähnt: Bei den "klassischen Quellen" handelt es sich im wesentlichen um Quellen, die absichtlich Mitteilungen von historischen Begebenheiten geben wollen, während es sich bei den "akkadischen Quellen" um "Überreste" im Sinne der von A. v. Brandt gegebenen Definition historischer Quellen handelt (vgl. Brandt 1989, 48-60). Vor- und Nachteile dieser Überreste als historische Quelle ergeben sich hierbei aus der Eigenart, daß sie historische Kenntnisse nicht absichtlich, sondern unabsichtlich vermitteln. Zwar kann deshalb bei Überresten davon ausgegangen werden, daß ihnen seltener "Tendenz" im Sinne einer absichtlichen Manipulation historischer Überlieferung innewohnt, aber dennoch dürfen sie nicht per definitionem als unverfälschte objektive Quellen angesehen werden. Zu untersuchen ist vielmehr jeweils, ob ein Überrest eventuell tendenziös in dem Sinne ist, daß er zur Beeinflussung zeitgenössischer Umwelt manipuliert wurde.

Im Rahmen dieser Untersuchung liegt die Bedeutung der Quellen des Alten Orients, die uns Hinweise auf "Kimmerier" liefern, zunächst in der Möglichkeit, mit ihrer Hilfe gesicherte absolute Datierungen für einige Ereignisse zu erhalten. So ist bereits hier darauf hinzuweisen, daß allein assyrische Quellen Hinweise darauf liefern, daß im allgemeinen mit den "Kimmeriern" gleichgesetzte Gimirrai am Ende des achten Jahrhunderts v.Chr. südlich des Kaukasus anzutreffen waren. Wenn diese Gleichsetzung zutreffend ist, steht diese Erkenntnis im direkten Gegensatz zu den Ergebnissen, die sich aus der Auswertung der herodotischen Aussagen ergeben hatten 470 und nach denen der "kombinierte" Kimmerier- und Skytheneinfall nach Kleinasien erst in der zweiten Hälfte des siebten Jahrhunderts v.Chr. anzusiedeln ist. Diesen frühen Nachweis von Gimirrai in Gebieten südlich des Kaukasus unmittelbar als Beleg für ebenfalls frühes Vordringen von "Kimmeriern" oder Skythen nach Mitteleuropa benutzen zu wollen (so Nagel 1982, 17), erscheint jedoch als unkritischer Schnellschluß. Allerdings läßt sich durch diese veränderten chronologischen Voraussetzungen die Behauptung, daß das Erscheinen der "Kimmerier" 471 in Kleinasien die direkte und unmittelbare Folge ihrer Vertreibung aus den ursprünglichen Siedlungsgebieten nördlich des Schwarzen Meeres war, kaum aufrecht erhalten, wenn man davon ausgehen muß, daß die Kimmerier bereits rund einhundert Jahre vor dem von Herodot überlieferten Skytheneinfall nach Medien in der Nähe Urartus und südlich des Kaukasus siedelten. Zu eng ist aber die von Herodot hergestellte Verbindung zwischen dem skythischen Auftreten in Medien zur Zeit des Kyaxares und dem als gleichzeitig anzunehmenden kimmerischen Vorstoß auf Lydien zur Zeit des Ardys, als daß sich diese Ereignisse um beinahe ein Jahrhundert verschieben ließen, ohne damit auch die kausalen Verbindungen zu zerbrechen.

Allerdings ist bereits die Gleichsetzung von "Gimirrai" und "Kimmeriern" nicht unproblematisch 472. So wurde behauptet, daß dieses in den vorderasiatischen Raum eindringende Volk schon bei seinem ersten Auftreten mit dem Kimmeriernamen bezeichnet worden sei und daß dieser Name sogar bis in den palästinischen Raum gedrungen sei (so Nylander 1965, 132). M. Riemschneider attestierte hierbei den Assyrern "ein ausgesprochen volkskundliches und ethnisches Interesse" und behauptete deshalb, daß diese Kimmerier und Skythen niemals verwechselt hätten, "obwohl diese verwandte Völker sind" (Riemschneider 1956, 17). Auch A. Ivancik betonte, daß "die akkadischen Quellen vom Ende des 8.-7. Jahrhunderts v.Chr. zwei Gruppen von Reiterkriegern, die sich selbst »die Kimmerier« und »die Skythen« nannten, konsequent unterscheiden" (Ivancik 1997, 15). Von anderer Seite wurde hingegen häufig darauf hingewiesen, daß die Namen "Kimmerier" und "Skythen" oft unmittelbar austauschbar seien: So erscheine im Akkadischen der Name "Iskuzai" bzw. "Asguzai" nur im Ausnahmefall als Entsprechung für die griechische Bezeichnung "Skythen", während "Gimirrai" sowohl "Kimmerier" als auch "Skythen" bezeichnen könne; andererseits findet sich im Urartäischen keine Entsprechung zum griechischen "Kimmerier", und "Isqiyulu" scheine dort die übliche Bezeichnung sowohl für die "Skythen" als auch für die "Kimmerier" (vgl. dazu Van Loon 1966, 16). Sollen also vorderasiatische Quellen herangezogen werden, muß auch jeweils die Frage behandelt werden, welches Volk sich konkret mit dem verwendeten Namen verbinden läßt.

Auf eine Erörterung bildlicher Darstellungen assyrischer Herkunft wird verzichtet, weil unter den abgebildeten Fremdvölkern keine Person auch nur entfernt die Möglichkeit eröffnet, sie als Vertreter eines Reitervolkes oder gar als "Kimmerier" zu identifizieren (vgl. dazu Wäfler 1975).


469 Mit Problemen, die "kimmerische Geschichte" zumindest streifen, beschäftigen sich Alte Geschichte, Altphilologie, Vorderasiatische Archäologie und Vor- und Frühgeschichte, um nur die "zentralen" Wissenschaften zu nennen.
470 Eine Bemerkung aus den urartäischen Annalen, die im Zusammenhang eines den Argisti I. in das Gebiet von Leninakan führenden Feldzuges steht, läßt zudem darauf schließen, daß der Urartäer um 774 v.Chr. dort Skythen antraf, da der Name Is-qi-GU-lu' für eine dortige Landschaft als Hinweis auf Skythen aufgefaßt werden kann (Van Loon 1966, 17). Somit wären Skythen bereits zu diesem frühen Zeitpunkt südlich des Kaukasus anzutreffen gewesen.
471 Klar muß hier darauf hingewiesen werden, daß eine gerechtfertigte Gleichsetzung der "griechischen" Kimmerier mit den "assyrischen" Gimirrai unabdingbare Voraussetzung für alle derartigen Überlegungen ist.
472 Auch R. Hachmann beklagte in seiner Besprechung des Buches "Who were the Cimmerians, and were did they come from? Sargon II., the Cimmerians, and Rusa I." von A.K.G. Kristensen, daß die Frage nach der Tragfähigkeit der Gleichung Kimmerier = Gimirrai überhaupt nicht gestellt wurde, sondern deren Richtigkeit ungeprüft vorausgesetzt wurde (vgl. Hachmann 1991, 509).


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