7.1.1 Die "Stutenmelker" der Ilias

In der modernen Forschung ist die Anschauung, daß in Homers "Stutenmelkern" das Nomadenvolk der Skythen identifiziert werden muß, weit verbreitet (z.B. Prinz 1979, 71 Anm. 57; Rolle 1980, 13; Janko 1992, 42). Aus chronologischen Gründen vermutete andererseits E.D. Phillips, daß die Stutenmelker Homers in dem namentlich nicht bekannten "präskythischen Reitervolk" identifiziert werden können, das sich in der "Periode der kimmerischen Herrschaft über die pontische Steppe" in Ungarn aufgehalten hatte und dessen archäologisch faßbaren Hinterlassenschaften S. Gallus und T. Horváth im Jahr 1939 erstmals zusammenhängend veröffentlicht und in die frühe Eisenzeit eingeordnet hatten (Phillips 1957, 274). Dahingegen werden die Kimmerier selbst nur selten als diese stutenmelkenden Hirten genannt (so Wiesner 1963, 74). Bereits Strabon identifiziert in den genannten "Hippomolgoi", "Galaktophagoi" und "Abioi" "die auf Wagen wohnenden Skythen und Sarmaten" (Strab. VII 3,2). Damit gibt Strabon aber die um Christi Geburt in den pontischen Steppen vorherrschende Situation wieder, als die Sarmaten die zuvor dort dominierenden Skythen 375 bereits in weiten Gebieten zurückgedrängt hatten (Junge 1939, 81.82; Zubar' 1991, 209.210).

Ohne auf die "Stutenmelker" des Homer einzugehen, berichtet auch Apollonios Rhodios in seinen Argonautika von Hirten an den Ufern der Donau, die aus Angst ihre Herden verlassen hätten, denn weder "hatten ... die Skythen, die mit den Thrakern gemischt sind, je ein Meerschiff gesehen, und ebenso nicht die Sigynner" (Apoll. Rhod. IV 319.320). Weil aus der Handlung keinerlei Notwendigkeit zur Einfügung dieser Hirtenschar in seine Erzählung bestand, kann man annehmen, daß er sie einer seiner Vorlagen entnahm. Eine derartige Vorlage könnte eine frühere pontische Argonautenerzählung gewesen sein, welche die Handlung ebenfalls in dieser Gegend spielen ließ und gleichfalls den Skythen die Rolle der Hirten zuwies (vgl. Stoessl 1941, 97). Die früheste Version einer Argonautenerzählung, die eine Fahrt ins Schwarze Meer beschrieb, wird am Anfang der Periode der milesischen Kolonisation entstanden sein (Merkelbach 1951, 201).

Es ist allerdings nicht möglich, eine derartige Quelle des Apollonios sicher zu benennen. Dahingegen fällt es auf, daß Herodot die von Apollonios aufgezählten Völker Skythen, Thraker und Sigynner ebenfalls geographisch mit der Donau in Verbindung bringt. Nach Herodot lebten im Gebiet südlich des Istros die Geten, die er als thrakischen Stamm bezeichnet (Hdt. IV 93; vgl. Thuk. II 96). Nördlich der Donau soll bereits skythisches Gebiet begonnen haben (Hdt. IV 99,1). Ebenfalls nördlich der Donau, wohl flußaufwärts, vermeldet Herodot die Sigynner, das einzige Volk dieser Gegend, dessen Namen er überhaupt in Erfahrung bringen konnte (Hdt. V 9,1). Herodot kannte sicherlich Erzählungen von der Fahrt der Argonauten nach Kolchis (Hdt. I 2,2), und es ist ebenso sicher, daß auch er deren Fahrt im Schwarzen Meer annahm, weil auch Herodot die Symplegaden der Argonautensage klar mit den kyanischen Felsen am Bosporos gleichsetzt (Hdt. IV 85,1). Apollonios will die von ihm beschriebene Fahrt der Argonauten als eine durchaus mögliche und der Beschaffenheit der bekannten Welt entsprechende Expedition erscheinen lassen, weshalb die Auswahl seiner Vorlagen sich am Stand der damaligen geographischen Forschung orientiert (Stoessl 1941, 6). Zu den für die Beschreibung des Schwarzmeerraumes relevanten Quellen muß aber auch das Werk Herodots gezählt werden, auf das Apollonios sicher zurückgreifen konnte. Eventuell hat die Mitteilung des Herodot, daß die Donau ganz Europa durchfließen würde (Hdt. IV 49), sogar erst die Idee des Apollonios angeregt, die Argonauten das Schwarze Meer über die Donau verlassen zu lassen. Möglicherweise hat Apollonios deshalb an dieser Stelle nur die herodotische Beschreibung der an der Donau siedelnden Völker reproduziert.

Es werden also durchgängig - von Apollonios über Strabon bis zur modernen Forschung - zur Erklärung oben genannter Stelle der Ilias die Verhältnisse aus der Zeit des Herodot in die Zeit der homerischen Epen zurückprojiziert. Es scheint zu keiner Zeit ernsthafte Zweifel gegeben zu haben, daß diese Verhältnisse in den mythischen Zeiten der Odyssee oder der noch früher anzusetzenden Argonautika noch nicht geherrscht hätten. Erathostenes und Apollodoros üben überdies an Homer heftige Kritik, daß er, anstatt eindeutig die Skythen als Bewohner der pontischen Gebiete zu nennen, dort nur von "Stutenmelkern" und "Milchessern" berichtet (Strab. VII 3,6). Selbst Herodot gibt als Bewohner dieses Teils Europas zur Zeit des ägyptischen Pharaos Sesostris 376 Skythen und Thraker an (Hdt. II 103,1). Damit widerspricht Herodot eigentlich deutlich seiner eigenen Aussage, wenn er an anderer Stelle behauptet, daß "das Land, das jetzt die Skythen bewohnen, ... nämlich vor Zeiten den Kimmeriern gehört haben" soll (Hdt. IV 11,1). Daß der Name der Kimmerier schon in alten Argonautenepen vorgekommen sein soll (Dihle 1970, 156), muß deshalb also nicht angenommen werden. Wenn man bedenkt, daß dem Apollonios Rhodios als Leiter der Bibliothek von Alexandria wohl alle überhaupt zur damaligen Zeit vorhandenen schriftlichen Unterlagen zur Verfügung standen (vgl. dazu Stoessl 1941, 6), und man zudem berücksichtigt, daß es bei der Abfassung der Argonautika sicher auch darum ging, neben den authentischen geographischen Informationen auch ebensolche historisch-ethnographische Angaben in das Werk einfließen zu lassen, so muß angenommen werden, daß keine der von Apollonios benutzten Quellen eine kimmerische Besiedlung der nordpontischen Steppen vor den Skythen glaubhaft machte. Die Glaubwürdigkeit der Erzählung hätte sich nämlich durch die Nennung von Kimmeriern wesentlich erhöht, wenn diese "vorskythische" Besiedlung allgemein anerkannt gewesen wäre 377.


375 An anderer Stelle bezeichnet Strabon allerdings die Sarmaten auch als Skythen (vgl. Strab. XI 2,1).
376 Beim Sesostris des Herodot muß es sich um den Pharao Senwosret Chakaurê aus der zwölften Dynastie handeln, der in das neunzehnte Jahrhundert v.Chr. datiert wird (Lange 1954, bes. 20). Zur Datierung des Sesostris durch Herodot selbst vgl. Tab. 8.
377 In einem dem um 600 v.Chr. lebenden Lyriker Alkaios zugeschriebenen Fragment wird Achilleus als "Herrscher des Skythenlandes" bezeichnet (Alk. Frg. 14 D.). Dieser Benennung muß die Vorstellung zugrunde liegen, daß zur Zeit des trojanischen Krieges - bzw. kurz danach - bereits Skythen die nordpontischen Küsten besiedelten.


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