4.3.1.5 Vergleich der Abstammungssagen

Der erste der im ganzen vier Berichte des Herodot dürfte als Gewährsleute mit Skythen "Beteiligte" selbst haben, wobei aber Tymnes, ein "Beamter" des Skythenkönigs Ariapeithes, der einzige "skythische" Gewährsmann ist 177, der von Herodot namentlich genannt wird (Hdt. IV 76,6). Allerdings versichert Herodot unmißverständlich, daß dieser Teil der Erzählung aus einer skythischen Quelle stamme, und er unterstreicht die Behauptung durch mehrfache Wiederholung dieser Erklärung (Hdt. IV 5,1.3; IV 7,1.3; IV 8,1).

Die Skythen sahen sich demnach selbst, wie oben geschildert wurde, als die "Ureinwohner" der pontischen Steppen an. Von Targitaos bis zum Einfall des Dareios - also um 513 v.Chr. - sollen nach Aussage der Skythen rund 1.000 Jahre vergangen sein (Hdt. IV 7,1). Diese große Zahl an Jahren läßt - verbunden mit dem Glauben des Volkes an seine Autochthonie - zumindest Zweifel aufkommen, ob eine eventuelle Einwanderung nicht zumindest viel früher erfolgt sein muß, als es nach anderen Nachrichten scheinen könnte (so schon Gutschmid 1892, 430). Allerdings betrifft die von Herodot mitgeteilte Tradition nicht den eigentlichen Ursprung des Volkes selbst, sondern den der skythischen Herrscher: wenn die drei Söhne des Targitaos sich die Herrschaft teilten, so muß das Land, trotz der entgegengesetzten Versicherung Herodots (Hdt. IV 5,1), bereits bevölkert gewesen sein. Darum deutete bereits K. Neumann die vom Himmel gefallenen goldenen Gerätschaften Pflug, Joch, Streitaxt und Trinkschale, die schließlich der Kolaxis in Besitz nahm, als Symbole für die "Unterwerfung ackerbautreibender und streitbarer, nomadischer Stämme, die zum Tribut gezwungen wurden" (Neumann 1855, 107).

Die zweite der Versionen vermittelt, welche Vorstellungen die Hellenen in den Städten an der Küste des Schwarzen Meeres von der "Landnahme" der Skythen hatten (Hdt. IV 8,1). Es fällt dabei auf, daß ebenfalls bei dieser Erzählung - wie bereits bei der ersten - der Eindruck vermittelt wird, daß die Skythen ein zuvor leeres Land in Besitz genommen hätten 178. Im Mittelpunkt auch dieser Geschichte steht eigentlich die Herkunft allein der skythischen Könige. Dabei verrät diese Erzählung deutlich den griechischen Einfluß, da sie nicht nur in den Kanon der Heraklestaten eingereiht ist 179, sondern auch die angeblichen Namen dieser ersten Skythenkönige, entgegen einer weitverbreiteten Meinung (vgl. Rolle 1991b, 203), wohl griechischen Ursprungs sein müssen 180. Außerdem wurden durch diese Erzählung Griechen und Skythen "verwandtschaftlich" miteinander verbunden, weil Herakles auch bei den Griechen als Ahnherr einiger ihrer Dynastien galt (Hdt. V 43; VII 208,1; VIII 114,2; IX 33,3) und hierdurch diese gleichsam zu "Cousins" der skythischen Könige wurden 181. Für die besondere Verehrung, welche Herakles gerade durch die pontischen Hellenen erfuhr (vgl. Minns 1913, 480), lassen sich ansonsten auch etliche archäologische Beweise anführen (Vinogradov 1981, 15; Rusjaeva u. Vinogradov 1991; Popova u. Kovalenko 1997).

Eine Analyse der beiden ersten Versionen des Herodot kann trotz vieler Unterschiede dennoch einige Gemeinsamkeiten herausarbeiten. Für beide Erzählungen nennt Herodot nämlich Anwohner des Schwarzen Meeres als Gewährsleute: einerseits Skythen selbst und andererseits am Pontos siedelnde Griechen. Beide Erzählungen vermitteln desweiteren den Eindruck, daß die Skythen die "Ureinwohner" des von ihnen bewohnten Landes seien 182, und in beiden Erzählungen ist von drei Brüdern die Rede, von denen jeweils der jüngste die Vorherrschaft bzw. die alleinige Herrschaft erringen kann (vgl. Vandiver 1991, 179). Diese Dreiteilung der Herrschaft spiegelt sich in der Mitteilung Herodots von der Existenz dreier unterschiedlich großer skythischer Reiche wider (Hdt. IV 120,3).

K. Müllenhoff brachte die Tatsache, daß nach der Aussage des Herodot die pontischen Griechen die Skythen und auch die Skythen sich selbst für Ureinwohner hielten, zu dem Schluß, daß damit für die Kimmerier in der Erzählung kein Platz mehr sei (Müllenhoff 1892, 23). Bereits 1855 erregte das Motiv, das für den Einbruch der Skythen in Medien in der Erzählung des Herodot angegeben wird, Bedenken bei M. Duncker. Auch unabhängig von der Frage, ob es einen derartigen Einbruch der Skythen und Kimmerier in Medien und Vorderasien gegeben hat und ob dieser zeitlich exakt bestimmt werden kann, muß die Aussage, daß die Skythen von den Massageten oder den Issedonen aus dem Osten nach Westen getrieben wurden und dort die Kimmerier verjagten, Widerspruch erregen. Denn die Kimmerier sollen nicht - wie es die Situation ihnen doch geboten hätte - nach Westen geflohen sein, sondern dem sie "verfolgenden" Feind, welchem sie im Grunde ausweichen wollten, gerade entgegen nach Osten (vgl. dazu Duncker 1855, 476).

Die dritte Version, von der Herodot berichtet, daß sie einstimmig von Hellenen und Barbaren erzählt wurde, nennt aber ebenso die Kimmerier als erste Bewohner der nordpontischen Steppen, wie sie die von den Massageten aus ihrem ursprünglichen Siedlungsraum verdrängten Skythen kennt, die ihrerseits die Kimmerier vertreiben. Indem Herodot ganz bewußt zwischen "Hellenen" und "Hellenen am Pontos" unterscheidet, weist er diese Sage aber deutlich den Griechen in seiner westkleinasiatischen Heimat zu 183. Und mit den Barbaren, die einstimmig mit diesen Hellenen diese Sage erzählten, müssen somit keine Skythen gemeint sein 184; eher ist an nichtgriechische Bewohner Kleinasiens und des mittleren Ostens zu denken, die ebenfalls mit Kimmeriern und Skythen in Kontakt gekommen waren.Hier kann erneut eine Verbindung zum ersten Buch Herodots hergestellt werden, in dem vom Einfall der Skythen in Medien unter der Führung ihres Königs Madyas, Protothyas' Sohn, berichtet wurde (Hdt. I 103,3): Meder und Perser kannten die Skythen als ein in Kleinasien einfallendes Nomadenvolk, ebenso wie Griechen und Lyder die Bekanntschaft der Kimmerier gemacht hatten. Aber diese Erfahrungen beschränkten sich klar auf den kleinasiatischen Raum, in den Kimmerier und Skythen eingedrungen waren, und reichten sicherlich nicht in die Räume, aus denen diese Völker gekommen sein sollen 185.

Herodots vierte Version mutet mit ihren Angaben über die von den Issedonen aus ihrer Heimat vertriebenen Skythen, die ihrerseits die Kimmerier aus ihrem Vaterland verdrängten, wie eine Bestätigung der vorherigen Erzählung durch einen namentlich bekannten, unabhängigen Zeugen an. Herodot selbst verstärkt diesen Eindruck, indem er die inhaltliche Wiedergabe der "Arimaspea" damit abschließt, daß er auf die anderslautenden Sagen der Skythen hinweist (Hdt. IV 13,2). Diesen Eindruck zu erwecken dürfte auch der Grund sein, aus dem Herodot seiner von ihm selbst bevorzugten dritten Erzählung diesen Bericht des Aristeas noch folgen läßt. Aber bei allen Gemeinsamkeiten der beiden Erzählungen müssen gerade die Unterschiede auffallen. Schon der Name des die Skythen verdrängenden Volkes variiert in beiden Berichten, worauf Herodot allerdings nicht eingeht, obwohl ihm beide Völker bekannt waren und er sie sogar einmal gemeinsam nennt (Hdt. I 201). Die Erwähnungen von Arimaspen, Greifen und Hyperboreern kommentiert Herodot nicht - wie er es ansonsten bei Nennung von Gestalten der Sagenwelt durchaus tut - im direkten Zusammenhang des den Aristeas betreffenden Kapitels, möglicherweise, um seinen "Zeugen" nicht unglaubhaft zu machen. Hinterher aber macht Herodot klar, daß er selbst nicht an die Hyperboreer glaubt (Hdt. IV 36,1). Seine Meinung zu den einäugigen Arimaspen kann man bereits im dritten Buch lesen, wo Herodot diese eindeutig in die Welt der Sagen und Mythen verweist (Hdt. III 116,1.2), der er an gleicher Stelle auch die Greifen zuordnet.

Dadurch, daß Herodot die deutlichen Unterschiede der beiden Erzählungen ignoriert, wird deutlich, daß ihm der gemeinsame Kern sehr glaubwürdig erschien, wie er es selbst auch betont (Hdt. IV 11,1). Wenn sich aber anhand der zur dritten Version genannten Gewährsleute dieser gemeinsame Kern den ionischen Griechen zuweisen läßt, muß auch von den Informationen des Aristeas eine vergleichbare Herkunft angenommen werden. Dazu paßt, daß Aristeas aus Prokonnesos stammte, das als eine milesische Gründung gesichert ist, ebenso wie das ebenfalls mit dem Aristeas in Verbindung gebrachte Kyzikos (vgl. Bilabel 1920, 46.47). In gleicher Weise verweisen auch andere Personen, die mit Reisen ähnlicher Art wie der des Aristeas in Verbindung gebracht werden können, klar nach Ionien: Hermotimos stammte aus Klazomenai 186, Pythagoras von Samos und Arktinos aus Milet selbst (Dowden 1979, 301.302).

Als Ergebnis des Vergleichs läßt sich zusammenfassen: Die vier von Herodot referierten Berichte lassen sich letztendlich auf zwei reduzieren. Die erste Geschichte erzählt die sagenhafte Version aus der skythischen Sicht, von der die zweite nur eine hellenisierte Fassung ist. Die beiden letzten Versionen geben eine im Kern identische Geschichte wieder, wobei es aber schwierig zu entscheiden ist, welches die ursprüngliche ist. Der recht deutliche Hinweis auf den Ursprung des dritten Berichtes - von Hellenen und Barbaren gemeinsam erzählt - scheint dafür zu sprechen, daß Aristeas in seinem Gedicht eben jene Ansicht wiederholte, die sich in seiner ionischen Heimat, zu der Prokonnesos und Kyzikos gehörten, über Skythen und Kimmerier gebildet hatte.


177 Ob Tymnes ein Skythe war, kann angesichts der Tatsache, daß weitere Nennungen dieses Namens durch Herodot auf karischen Ursprung schließen lassen (Hdt. V 37,1; VII 98), durchaus bezweifelt werden. Seine Nennung als "epitropos" läßt eher darauf schließen, daß es sich bei ihm um einen Griechen oder Karer handelte, der in der griechischen Stadt Olbia gewissermaßen Interessenvertreter des Skythenkönigs war (Zur Person des Tymnes vgl. auch Gardiner-Garden 1987, 348.349).
178 Das Land gehörte zuvor dem Schlangenwesen (Hdt. IV 9,4), womit Skythes das Land von seiner Mutter "erbte".
179 S.S. Bessonova versuchte den Eindruck zu vermitteln, daß es einen skythischen Namen des Herakles gegeben habe, den Herodot nur nicht überliefert habe (Bessonova 1991, 151). Nun ist aber Herakles der griechische Heros in seiner reinsten Ausprägung, für den die Skythen wohl keine direkte Entsprechung hatten. Die Vermittlung des Herakleskults in die Kolonien an der Schwarzmeerküste ist sicherlich von deren Mutterstadt Milet ausgegangen (vgl. Farnell 1921, 137.138). Im übrigen ist das von Herodot erwähnte Schlangenwesen - bei Hesiod Echidna genannt - auch in der griechischen Mythologie durchaus bekannt (vgl. Hes. theog. 295-300), und ein aus dem Cimbalka-Kurgan stammendes goldenes Beschlagstück, das ein derartiges Mischwesen darstellt, muß als griechische Arbeit gelten (vgl. Gold 1984, 100.101). R. Werner lehnte aber die Annahme, das herodotische Schlangenwesen könnte auf griechische Mythologie zurückgehen, entschieden ab (R. Werner 1996, 275 Anm. 4).
180 Die Namen Agathyrsos, Gelonos und Skythes verweisen deutlich auf die Völker Agathyrsen, Geloner und die Skythen selbst. Zumindest aber über den Namen "Skythen" wissen wir, daß er nur von den Griechen verwendet wurde, während die Skythen sich selbst "Skoloten" genannt haben sollen (Hdt. IV 6,2) und die Perser alle Skythen "Saken" nannten (Hdt. VII 64,2; vgl. Plin. nat. VI 17). Zudem ist auch der einzige weitere von Herodot genannte Träger des Namens Skythes ein Grieche (vgl. Hdt. VI 23,1; VII 163,2). Plinius nennt, an dieser Stelle den Aristoteles zitierend, einen Lyder namens Skythes als Erfinder des Erzschmelzens (Plin. nat. VII 197).
181 U. Huttner verglich die behauptete Herakles-Herkunft der skythischen Könige mit der Abstammung der zweiten lydischen Dynastie von dem griechischen Halbgott. Diese bezeichnete er als "griechisches Konstrukt, das sich womöglich an lydische Mythen anlehnt und den Griechen den Ursprung dieses für sie so bedrohlich nahen und wichtigen Königtums erklären sollte" (Huttner 1997, 233). Einen ähnlichen "Zweck" dürfte auch die skythische Erzählung erfüllt haben: Durch diese verbindende Vergangenheit sollte für die einheimischen Skythen und die neu angesiedelten Griechen eine gemeinsame Basis für ihr Zusammenleben geschaffen werden. Es wurde sogar der Eindruck erweckt, daß die skythischen Könige ihre Legitimation - nämlich den Bogen des Herakles - aus griechischer Hand erhalten hatten.
182 Diodoros' Version der Sage bestätigt dies: Zeus und eine Frau mit schlangenförmigem Unterkörper sollen den Skythes gezeugt haben, der anschließend König des bereits in diesem Gebiet lebenden Nomadenvolkes wurde. Dieses Nomadenvolk verdankte dem neuen König auch seinen Namen (Diod. II 43,1-3).
183 Anders beurteilte dies S. Tohtasjev, der davon ausging, daß sich die Tradition über die Kimmerier im nördlichen Schwarzmeergebiet in der Umwelt der Siedler herauszubilden begann und somit auf lokalen Überlieferungen beruhen würde (vgl. Tohtasjev 1996, 23).
184 Wenn in den auch von Herodot erwähnten Taurern (Hdt. IV 99; I 102; I 103) Reste einer eingeborenen, vorkimmerischen Bevölkerung oder gar im Land verbliebene Kimmerier identifiziert werden könnten (so Hall 1989, 111), so müßten deren Vorfahren "Zeugen" der Geschehnisse gewesen sein. Für Strabon sind diese Taurer aber ein skythisches Volk (Strab. VII 4,5; vgl. Plin. nat. IV 26). Zudem hätte es Herodot wohl nicht versäumt, derart glaubwürdige Gewährsleute zu nennen, zumal, wenn es ihm damit zugleich gelungen wäre, Angehörige eines sagenhaften Volks wie desjenigen der Kimmerier zu identifizieren.
185 Die entfernteren Teile Asiens sind nach Herodot erst zur Zeit des Dareios bekannt geworden (Hdt. IV 44,1).
186 Plinius der Ältere berichtet von Hermotinos, daß dessen Seele den Körper verlassen habe und auf Reisen gegangen sei; Plinius verbindet diese Erzählung direkt mit den Nachrichten über den Aristeas (Plin. nat. VII 174.175).


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