4.3.2 Bemerkungen zum Skythenfeldzug des Dareios

Der Feldzug des Dareios gegen die Skythen besitzt im Rahmen dieser Untersuchung zunächst deshalb Bedeutung, weil Herodot eine Verbindung zwischen den Einfällen der Kimmerier und der Skythen in Kleinasien und dieser persischen Expedition nach Skythien herstellt. Außerdem bietet die Beschreibung dieser persischen Expedition Herodot den Rahmen zu seiner Schilderung Skythiens, die bei der Beurteilung der geographischen und ethnographischen Kenntnisse des Herodot hier von besonderer Bedeutung ist 187.

Herodot behauptet, daß für den persischen Großkönig Dareios der skythische Überfall auf Medien der Grund gewesen sein soll, einen Feldzug nach Skythien zu führen; Dareios wollte die Skythen dafür bestrafen, daß sie den Frieden gebrochen hätten (Hdt. IV 1). Zwar verwies J.A.S. Evans auch auf ein von Herodot selbst genanntes ökonomisches Argument für diese Expedition - "Asia war reich und gesegnet, an Volkszahl sowie an Einkünften" (Hdt. IV 1,1) -, aber der Beweggrund des Dareios für die Expedition gegen die Skythen soll Rache für die alte Verfehlung gewesen sein 188, während die günstigen ökonomischen Verhältnisse nur die Zeit reif sein ließen, um den eigentlichen casus belli zu diesem Zeitpunkt in die Tat umzusetzen (Evans 1991, 17). Die Behauptung Herodots, daß die Perser ganz Asien als ihr Vaterland und damit alle Völker, die es bewohnten, als ihre "Verwandten" ansahen (Hdt. I 4), scheint dies zu untermauern 189.

Allerdings liefert Herodot selbst Argumente, die gegen die Annahme einer "Strafaktion" sprechen: Die Perser unterwarfen nämlich auch alle Völker südlich Skythiens, anstatt sich auf das angebliche Vorhaben - also die Bestrafung der Skythen - zu konzentrieren (Hdt. IV 118; vgl. Hdt. III 134; VII 8). Auch J.R. Gardiner-Garden konnte sich nicht vorstellen, daß Dareios die Skythen, die das assyrische Reich überrannt und sich später über den Kaukasus zurückgezogen hatten, dadurch bestrafen wollte, daß er ein Jahrhundert später über den Thrakischen Bosporos zog (Gardiner-Garden 1987, 342). Die Darstellung des Diodoros gibt - im Gegensatz zur Version Herodots - die Zielsetzung der Expedition unumwunden so wieder (Diod. X 19,5): "Als sich Dareios zum Herrn von fast ganz Asien gemacht hatte, wollte er auch noch Europa unterwerfen". Somit wäre dieser Feldzug gegen die Skythen nur die Einleitung eines größeren Unternehmens gewesen, dessen Ziel schließlich die Unterwerfung ganz Europas war 190.

Zahlreiche Untersuchungen beschäftigen sich mit der skythischen Expedition des Dareios, ohne jedoch die Frage der Motivation übereinstimmend zu beantworten (vgl. Bury 1897; Herrmann 1933; Balcer 1972; Gardiner-Garden 1987). So können eventuell die Ergebnisse dieses Feldzuges Auskunft über die ursprünglichen Ziele geben. Herodot stellt das Unternehmen zwar als Mißerfolg dar, aber selbst wenn seine Darstellung eines fluchtartigen Rückzuges aus Skythien der Wahrheit entspricht, so war dieser - wenn man die Ausweitung und die Sicherung des persischen Reiches als Ganzes betrachtet - bloß ein geringfügiger Rückschlag. Unter Umständen war es nicht einmal ein erzwungener Rückzug, und eine Unterwerfung aller Skythen hat möglicherweise niemals in der Absicht des Dareios gelegen. Freilich kann ein derartiger Vorsatz - nämlich die skythische Steppe dem Perserreich einzuverleiben - nicht grundsätzlich als "Phantasterei und griechisches Wunschdenken" abgetan werden (so De Sélincourt 1967, 225). Die Perser waren nämlich die Überbrückung weit größerer Entfernungen gewohnt als die Griechen 191, und somit könnte sogar eine "Umrundung" des Schwarzen Meeres mit einer Armee den Persern als durchaus möglich erschienen sein.

Auch Herodot kann einige Erfolge des Skythenfeldzuges nicht verschweigen: Der Großkönig kehrte unbeschadet aus Skythien zurück 192, und er konnte die persische Herrschaft im Gebiet der nördlichen Ägäis sichern, indem er Thrakien in das Achämenidenreich integriert und Makedonien zu einem Protektorat reduziert hatte (vgl. Pajakowski 1983; Evans 1991, 145 Anm. 221). Zudem brachte die der skythischen Unternehmung folgende militärische Konsolidierung der persischen Herrschaft 193 am Hellespont den Griechen des Mutterlandes weitere Verluste, indem mit den Städten Kalchedonia und Byzanz auch die Schlüsselpositionen zum Pontos in die Gewalt der Perser fielen (vgl. Hdt. V 26). Ein von Herodot berichteter Skytheneinfall in Thrakien, "aus Zorn über den Einfall des Dareios", der sogar bis zur Chersonesos vordringen konnte (Hdt. VI 40,1), kann dabei schwerlich als Zeichen der Schwächung persischer Herrschaft aufgrund einer Niederlage in Skythien gedeutet werden, wenn dieser Skytheneinfall über zehn Jahre nach dem Feldzug des Dareios stattfand.

Weder der Verlauf noch die Ergebnisse des skythischen Feldzuges lassen sich zur Untermauerung für das von Herodot angegebene Rachemotiv des Dareios heranführen. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, daß Herodot Rache bzw. Vergeltung als Motiv für diese Militäraktion angibt, um diese zwischen Bewohnern Europas und Asiens ausgetragene Auseinandersetzung ergänzend neben die von den Persern und den Griechen geführten Kriege stellen zu können (vgl. Hdt. I 1-4). Wenn aber Rache als Motiv der Perser für ihren Skythenfeldzug ausgeschlossen werden kann 194, drängt sich zugleich die Frage auf, ob den Persern überhaupt ein kausaler Zusammenhang zwischen dem kimmerischen und dem skythischen Einfall nach Asien bekannt gewesen ist. Schließlich muß Herodot zum Mittel der mehrfachen Wiederholung greifen, um daran zu erinnern, daß der skythische Einfall eine direkte Konsequenz der Verfolgung der Kimmerier gewesen sei (Hdt. I 15; IV 1,2; VII 20,2). Angesichts der Tatsache, daß die Skythen diese "Verfolgung" in Kleinasien nicht fortgesetzt haben - auch Herodot liefert dazu keine Hinweise -, kann aber den Persern bzw. den Medern ein derartiger Zusammenhang schwerlich bekannt gewesen sein (Lewy 1925, 19 Anm. 3). Somit müssen aber Zweifel aufkommen, ob die Perser bezüglich dieses Sachverhaltes als glaubhafte Zeugen für die von Herodot über Kimmerier und Skythen berichteten Ereignisse in Frage kommen.


187 Auf eine Zusammenstellung aller antiken Quellen, die Auskunft über den Skythenfeldzug des Dareios geben, wird hier verzichtet. Ebenso bleibt unerörtert, ob unter Dareios mehrere Feldzüge gegen unterschiedliche Sakengruppen geführt wurden (vgl. dazu aber Shahbazi 1982).
188 Rache wird von Herodot wiederholt als Motiv menschlichen Handelns genannt (vgl. dazu die Erörterungen von Waters 1985, 105.106).
189 Die Darstellungen auch achämenidischer Reliefs, auf denen Perser gemeinsam mit den übrigen Reichsvölkern den Thron des Herrschers tragen, sollen die Gemeinsamkeit der Angehörigen des Perserreiches symbolisieren (vgl. Walser 1966, 51-67).
190 Hierbei sind die antiken Vorstellungen von der Größe der Erdteile und somit auch Europas aus der Sicht der Perser zu berücksichtigen. Für die Griechen war zunächst Griechenland selbst der wichtigste Teil Europas.
191 So gibt Herodot die Entfernung zwischen Susa und Sardes mit 13.500 Stadien, also mit rund 2.400 Kilometern an (Hdt. V 52.53). Um von der ionischen Küste bis in das persische Kernland zu gelangen, soll eine neunzigtägige Reise notwendig gewesen sein (Hdt. V 50), was für den Spartanerkönig Kleomenes allein schon Grund genug war, von jedem kriegerischen Vorhaben gegen Persien abzusehen.
192 Dieser Umstand ist durchaus erwähnenswert, wenn man damit das Schicksal des Kyros auf seinem Massagetenfeldzug vergleicht (Hdt. I 214).
193 Gerade die anschließenden umfangreichen militärischen Aktionen in Thrakien und in der nördlichen Ägäis zeigen die ungebrochene militärische Potenz der Perser.
194 Auffälligerweise haben die Perser keinen weiteren Versuch unternommen, tiefer nach Skythien vorzudringen. Dabei hätte ein fehlgeschlagener erster Rachefeldzug aber gerade verstärkte Anstrengungen zur Unterwerfung Skythiens hervorrufen müssen, wie etwa die Reaktion des Dareios auf die Niederlage bei Marathon belegt (vgl. Hdt. VII 1).


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