7.2.3.2 Die Orphischen Argonautika

Zu den Werken des zweiten Jahrhunderts n.Chr., die unter dem Namen des Orpheus veröffentlicht wurden - sicherlich um ein wesentlich höheres Alter vorzutäuschen - gehören auch die Orphica Argonautica (Lesky 1963, 867), wobei das relativ späte Entstehungsdatum erst in der Neuzeit erkannt wurde (vgl. Hermann 1805; Dihle 1989, 280). In diese Orphischen Argonautika flossen zwar auch "Fakten und Vokabular Herodots und Strabons" ein (so Bacon 1931, 172), jedoch als eine der Hauptquellen dienten unbezweifelbar die Argonautika des Apollonios Rhodios, von der sich die Orphischen Argonautika in weiten Teilen als unmittelbar abhängig erwiesen haben (vgl. Radermacher 1938, 172; Vian 1987, 18). Die zahlreichen Variationen bezüglich geographischer Angaben lassen sich dabei mit dem Bestreben des im folgenden "Orphiker" genannten Dichters erklären, sich von der Vorlage des Apollonios zu unterscheiden (Venzke 1941, 109.110; Ziegler 1942, 1333.1334). Im Rahmen dieser Untersuchung gewinnen die Orphischen Argonautika jedoch gerade durch diejenigen Teile besondere Bedeutung, die erheblich vom Epos des Apollonios abweichen. Der Abschnitt der Orphischen Argonautika, welcher den Übergang der Argonauten vom Pontos Euxeinos in den westlichen Ozean beschreibt, stellt nämlich eine Verbindung zwischen der Fahrt der Argonauten und dem Volk der Kimmerier her, auf die wiederholt hingewiesen wurde (Berger 1904, 15; Bury 1906, 85).

Unter dem Eindruck neuer geographischer Kenntnisse, die sich auch aus der erweiterten römischen Weltsicht ergaben, widersprach Diodoros allen Argonautenepen, die eine Fahrt des Schiffes über den Istros ins adriatische Meer annahmen (Diod. IV 56,7-8). Auch Plinius dem Älteren war bekannt, daß über die Donau keine Verbindung zwischen dem Schwarzen und dem Adriatischen Meer besteht 423. Die erste Erwähnung einer nördlichen Route wird dem Timaios von Tauromenion, der im vierten vorchristlichen Jahrhundert lebte, zugeschrieben. Dieser Timaios berichtet, daß die Argonauten, weil der Bosporos bereits von Aietes besetzt worden war, den Tanais bis zu dessen Quellen hinauffuhren. Von dort hätten sie die Argo eine Strecke über Land gezogen, um dann auf einem nicht namentlich genannten Fluß weiter nordwärts in den Okeanos zu fahren, auf dem sie in südwestlicher Richtung wieder in das Mittelmeer gelangt seien (Diod. IV 56,3-6). Die Orphischen Argonautika verbinden diese "neue" Nordroute mit älteren Fahrtbeschreibungen, indem sie die Argonauten zunächst, wie es die früheren Erzählungen angegeben hatten, dem Phasis aufwärts folgen läßt (Orph. Arg. 1038-1043).

Die Argonauten gelangen über den Phasis aber nicht in den östlichen Okeanos 424, sondern über den vom Phasis nach Norden abzweigenden Saranges in die Maiotis (Orph. Arg. 1049-1054). Von hier aus führt die Reise weiter nordwärts durch Skythien auf einem zwar nicht benannten Fluß, mit dem allerdings - in Analogie zu Timaios 425 - nur der Tanais gemeint sein kann (vgl. Ziegler 1942, 1333; Phillips 1969, 182). Die Argonauten fahren an zahlreichen Völkern vorbei, unter denen sich auch die Arimaspen (Orph. Arg. 1063) und die Hyperboreer befinden (Orph. Arg. 1077.1082), um anschließend ein Rhipäen genanntes Gebirge zu erreichen 426. Die sprachliche Herleitung des Namens dieses Gebirges – "ripai" = "Atem" (Delage 1930, 198) - läßt darauf schließen, daß hier die "Wohnung" des Nordwindes vermutet wurde (vgl. Plin. nat. IV 88). Damit lassen sich die Rhipäischen Berge und die Hyperboreer zumindest etymologisch aufs engste miteinander verbinden. Die Fahrt führt die Argonauten über diese Rhipäen 427 - immer noch dem Fluß Tanais folgend - schließlich zum Okeanos 428, der von den Hyperboreern "Meer des Kronos" bzw. "Totes Meer" genannt worden sein soll (Orph. Arg. 1078-1082). Als sie sich jetzt nach Westen wenden, müssen die Argonauten ihr Schiff wegen des fehlenden Windes 429 ziehen (Orph. Arg. 1083-1104).

Nun erreichen die Argonauten das Land der Makrobier (Orph. Arg. 1105-1118). Der Name Makrobier, der "Langlebige" bedeutet, erinnert sowohl an die Aithiopier (Hdt. III 17-23.114), läßt aber auch an Hyperboreer denken (Pind. Ol. III,16-20; Clem. Alex. strom. IV 172,3), denen ebenso wie den Makrobiern außer der Langlebigkeit auch großer Reichtum und Überfluß nachgesagt wurde. Nachdem die Argonauten die Ansiedlungen der Makrobier hinter sich gelassen haben, gelangen sie, die Argo immer noch ziehend, zu den Kimmeriern 430. Diese sollen das einzige Volk sein, das von der Sonne nicht erreicht würde (Orph. Arg. 1119-1122). Sowohl die Kimmerier selbst, als auch die Beschreibung, daß sie von der Sonne nicht beschienen würden, sind offenkundig direkt der Erzählung Homers entnommen. Der Orphiker versucht allerdings, mit den hohen Gebirgen, die das Land der Kimmerier umschließen sollen, die sie umgebende Dunkelheit zu begründen (Orph. Arg. 1122-1127): Die aufgehende Sonne würde durch "Ripaion oros" und "Kalpios ayxen", die Mittagssonne durch "Phlegre", und die Abendsonne zuletzt durch "Alpeis" abgehalten 431. Auch das Land der Kimmerier passieren die Argonauten, ohne mit dessen Bewohnern in Kontakt zu treten, und erreichen eine absolut windstille Bucht, in die sich der Acheron, der Fluß der Unterwelt, ergießt (Orph. Arg. 1128-1135). An diesem Küstenabschnitt befindet sich die Stadt Hermioneia 432, die von den "gerechtesten Menschen" bewohnt sein soll. In der Nähe dieser Stadt befindet sich der Eingang zur Unterwelt und existiert ein Volk der Träume (Orph. Arg. 1136-1142). Nachdem die Argonauten Hermioneia hinter sich gelassen haben, können sie das Ziehen ihres Schiffes endlich einstellen, weil Zephyros, der Westwind, wieder das Segeln ermöglicht (Orph. Arg. 1150). Nach der Fahrt an der Küste des Atlantiks entlang gelangen Iason und seine Gefährten, an den Säulen des Herakles vorbei, wieder in die vertrauten Gewässer des Mittelmeers, wo die Orphischen Argonautika wieder Anschluß an die des Apollonios finden.

Der Orphiker hat in seiner Beschreibung des nördlich der Rhipäen liegenden Okeanos zahlreiche als unverkennbar "orphisch" erkennbare Elemente vereint. Selbst die Bezeichnungen "Meer des Kronos" und "Totes Meer" für dieses nördliche Meer 433 geben Hinweise auf die vermutete Nähe zur Unterwelt, denn Kronos 434, Vater des Zeus und der bedeutendste der Titanen, wurde nach seiner Entmachtung durch Zeus gemeinsam mit den übrigen Titanen in den Tartaros verbannt, von dem man glaubte, daß er sogar noch unterhalb des Hades und am äußersten Rand der Erde liegen würde (Hes. theog. 725-735; Hom. Il. VIII 13-16; Verg. Aen. VI 576-581; Orig. c. Cels. VI 42,22-32). Diese Nähe zum Tartaros, den selbst die Götter mit Abscheu gemieden haben sollen (vgl. Hes. theog. 739), kann die Furcht erklären, welche die Argonauten bei der Einfahrt in dieses "Tote Meer" 435 befallen haben soll (Orph. Arg. 1084), das somit gleichsam das "Meer des Todes" ist 436. Am Ufer dieses Meeres wohnen zahlreiche Völker nebeneinander, die alle jenseits der Rhipäen in mythischen Bereichen angesiedelt sind. So vereint die Beschreibung der orphischen Makrobier die Vorstellungen von den im Norden angesiedelten Hyperboreern mit denen der Aithiopier, die zugleich im Osten und im Westen - am Aufgangs- und Untergangsort der Sonne - vermutet (so Hom. Od. I 22-24; vgl. Hdt. VII 70) und schließlich in einem realen Volk am Südmeer 437 in Libyen identifiziert wurden (Hdt. III 17,1; vgl. Hom. Od. IV 84). Und die Bewohner der Stadt Hermioneia stehen dadurch, daß sie als "gerechteste Menschen" bezeichnet werden, in direktem Zusammenhang mit den Abiern Homers, denen gleiches nachgesagt wurde (Hom. Il. XIII 4-7). Das in der Nähe der Stadt Hermioneia angesiedelte "Volk der Träume" erinnert an das "Haus von Schlaf und Tod", das man sich ebenfalls am Okeanos vorstellte (Hes. theog. 758.759). Zwischen den Ansiedlungen dieser Völker liegt, auch am Ufer des Okeanos, das Land der in ewiger Dunkelheit lebenden Kimmerier, wie es auch von Homer beschrieben wird (vgl. Hom. Od. XI 13). Die vom Orphiker nicht erwähnte Stadt der Kimmerier (Hom. Od. XI 14) läßt sich aber in der Stadt Hermioneia wiedererkennen, die ebenfalls durch ihre Lage neben dem Eingang zur Unterwelt gekennzeichnet ist.

Die Orphischen Argonautika wollten zwar sicherlich dadurch überragendes geographisches Wissen 438 demonstrieren, daß sie anstatt der inzwischen als unmöglich erkannten Routen über den Istros oder den Phasis eine Fahrtstrecke über den Tanais als neue, nördliche Reiseroute angaben; aber durch die Einfügung zahlreicher archaisierender Elemente sollte das Epos zugleich als ein Werk des Orpheus erscheinen (Venzke 1941, 109.110). Deshalb vereint seine Beschreibung des nördlichen Meeres in den Orphischen Argonautika die Vorstellungen über fast alle traditionell mit dem Okeanos verbundenen Völker, unabhängig davon, an welchem Ende der Erde sie normalerweise lokalisiert wurden. Die Argonauten verlassen, als sie die Rhipäen überschreiten, die geographisch faßbaren Gebiete der Welt, wofür die Abwesenheit jeglichen Windes geradezu Sinnbild ist. Erst nachdem sie Hermioneia hinter sich gelassen haben, deutet der aufkommende Westwind an, daß die Argonauten nun wieder in die "reale" Welt zurückgekehrt sind. Deshalb kann auch die Erwähnung der Kimmerier nicht als Beweis gewertet werden, daß diese allgemein im Norden lokalisiert wurden. Ebenso ist es unmöglich, die "Genauigkeit, mit der sie [die Kimmerier] lokalisiert werden", als Beweis für bzw. gegen einen "arktischen Charakter des Reiseberichtes" zu benutzen (vgl. dazu Bacon 1931, 180), ebenso wie es abwegig ist, in der Orphischen Argonautika den Niederschlag "mykenischer" Reisen ins Baltikum zu sehen (so Phillips 1969, 186.193).


423 Plinius berichtet aber von der Rückreise der Argonauten über die Donau in die Adria, indem sie ihr Schiff über die Alpen getragen hätten (Plin. nat. III 128).
424 Die Argonauten gelangen im Kaukasus an einen Erytheia genannten Paß. Erytheia, d.h. "Rotland", wird aber bei Hesiod die Insel im Okeanos genannt, von der Herakles die Rinder des Geryones raubte (Hes. theog. 287-294).
425 Auch Plinius nennt Timaios unter seinen Gewährsleuten für die Beschreibung Skythiens und "der äußeren Teile Europas" (Plin. nat. IV 94; IV 104). Die Übereinstimmungen zwischen den Beschreibungen des Plinius, des Pomponius Mela und des Orphikers (vgl. Plin. nat. IV 88-104; Mela I 109-117) lassen eine Benutzung der Naturalis historia oder De chorographia libri tres durch den Orphiker oder gemeinsame Quellen vermuten.
426 Auch Pomponius Mela berichtet, daß der Tanais von den Riphäen abwärts strömt (Mela I 115).
427 Anders als im Bericht des Timaios gibt es keinen Hinweis, daß die Argonauten ihr Schiff hätten tragen oder ziehen müssen (vgl. Diod. IV 56,3).
428 Plinius der Ältere berichtet - in diesem Zusammenhang den Timaios als Zeugen nennend -, daß man nach dem Überschreiten der Ripäischen Berge die Küste des "nördlichen Ozeans" erreichen würde (Plin. nat. IV 94). Pomponius Mela berichtet ebenfalls, daß jenseits der Riphäen die Küste des Okeanos liegt (Mela I 117).
429 Die Abwesenheit von Wind ist hier die logische Weiterentwicklung der Vorstellung, daß in den Rhipäischen Bergen der Boreas, der nördlichste der Winde, wohnen würde: noch weiter im Norden kann dann kein Wind mehr wehen.
430 Der ältere Plinius berichtet ebenfalls von Cimmerii jenseits der Ripäischen Berge (Plin. nat. VI 35), und bei Pomponius Mela sind die Kimmerier "super Amazonas et Hyperboreos" angesiedelt (Mela I 13).
431 Diese Idee könnte auf das Weltbild des Naturphilosophen Anaximenes von Milet zurückgehen, der glaubte, daß die Gestirne sich nicht unter der Erde hindurch, sondern um die Erde herum bewegten. Die Sonne würde also, wenn sie untergeht, von Erhebungen verdeckt (vgl. Hippol. I 7,6).
432 Vom Argivischen Hermioneia wurde ebenso berichtet, daß dort ein Eingang zur Unterwelt liege (Paus. II 31,10; II 35,10).
433 Auch in der Naturalis historia des älteren Plinius finden sich die Termini "mortuum mare" bzw. "mare cronium" für den "oceanus septentrionalis", die Plinius zufolge auf den ebenfalls im ersten Jahrhundert n.Chr. tätigen Philemon zurückgehen sollen (vgl. dazu Kroll 1938, 2148). Philemon wiederum soll die Bezeichnung "mortuum mare" auf die Kimbern zurückgeführt haben, die das nördliche Meer "Morimarusam" - nämlich "Totes Meer" - genannt hätten (Plin. nat. IV 95; vgl. IV 104).
434 G. Winkler und R. König vermerkten in ihren Erläuterungen zwar lapidar: "Kronion (»Walmeer«; vgl. altengl. hran - Wal; eine Beziehung zum griech. Gott Kronos ist abzulehnen), h. das Meer westl. von Norwegen" (Winkler u. König 1988, 423), blieben eine detaillierte Begründung für diese Ablehnung aber schuldig.
435 Eine naturwissenschaftliche Erklärung dieses Namens im Sinne von "unbeweglichem und trägem Meer" wurde in dem Phänomen gesucht, das sich bei der Überlagerung von Schichten schweren Meerwassers durch leichteres Süßwasser ergibt (vgl. Winkler u. König 1988, 423). E. Norden glaubte, daß die Kenntnis über dieses Phänomen und damit auch der Name auf den im vierten Jahrhundert v.Chr. lebenden Pytheas von Massilia zurückging (Norden 1959, 40).
436 Vergleichbare Furcht vor den Schreckensgestalten des Hades befiel auch den Odysseus (Hom. Od. X 494-496; XI 632-637).
437 Die südliche Grenze von Libyen lag nach den Vorstellungen der ionischen Geographen im übrigen ebenfalls am Ufer des Okeanos (vgl. Hdt. II 21-22).
438 Die orphische Schilderung der nördlichen Fahrtroute der Argonauten zeigt große Ähnlichkeit mit der Beschreibung der "äußeren Teile Europas" durch Plinius (Plin. nat. IV 88.89.94-104; vgl. Mela I 115.117). Die Abhängigkeit des älteren Plinius von der ionischen Geographie ist aber - ebenso wie die des Pomponius Mela - bekannt (Gisinger 1924, 674-677; vgl. dazu die Listen der Quellenschriften bei Detlefsen 1909, 158-168 und Sallmann 1971, 49-88).


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