7.2.3.3 Aia und Kolchis

Diodoros kannte mehrere, sich in ihrem Inhalt stark unterscheidende Erzählungen über die Fahrt der Argonauten, deren wesentlichster Unterschied im auf der Rückreise gewählten Weg bestand (Diod. IV 44,5-6; IV 56,1; vgl. Strab. I 2,39). Herodot gibt die zu seiner Zeit sicherlich gängige Meinung wieder, daß die Fahrt der Argo zum im Land Kolchis gelegenen Aia und an den Fluß Phasis geführt habe (Hdt. I 2,2; VII 193). Das entscheidende Problem bei der Lokalisierung des Fahrtziels in der Südostecke des Schwarzen Meeres hat sich daraus ergeben, daß eine starke Tradition existiert haben muß, die den Argonauten auf ihrem Rückweg eine andere Fahrtroute vorschrieb als auf dem Hinweg und die von den Dichtern der Argonautenepen nicht ignoriert werden konnte. Bekanntermaßen aber ist die durch Hellespont und Bosporos führende Wasserstraße die einzige Möglichkeit, um mit dem Schiff von der Ägäis aus ins Schwarze Meer zu gelangen 439.

Einige Angaben zum Land Aia als Ziel der Fahrt des Iason und seiner Gefährten finden sich in einem Fragment aus Mimnermos' "Nanno" (Mimn. Frg. 11; vgl. Strab. I 3,40): In Aia befindet sich die Stadt des Aietes, wo am Ufer des Okeanos der Sonnengott Helios in einem Gemach seine Strahlen aufbewahrt. Für Strabon ist klar, daß diese Auskunft des Mimnermos auf eine Lokalisierung von Aia im "Morgenlande", also im Osten, hinweist (Strab. I 3,40). Aber die Lage von Aia am Okeanos allein deutet auf keine bestimmte Himmelsrichtung hin 440. Die Lokalisierung von Aia am Ufer des Okeanos ermöglichte es indes den Dichtern von Argonautenepen, die Rückreise der Argonauten - unabhängig von einer genaueren geographischen Einordnung - über diesen Ringstrom erfolgen zu lassen.

Mimnermos' Angaben zum "Tagesablauf" des Sonnengottes liefern freilich weitere "geographisch" auswertbare Informationen (Mimn. Frg. 10): Am Ort des Sonnenuntergangs angekommen, besteigt Helios seinen goldenen Sonnenbecher, der den schlafenden Gott auf dem Okeanos wieder zurück in das Land der Aithiopier bringt, wo sein Gespann bereits wieder auf ihn wartet. Durch eine Kombination beider Fragmente scheint sich als Ergebnis die Aussage erzielen zu lassen, daß die Heimat der Aithiopier und die im Land Aia liegende Stadt des Aietes von Mimnermos zumindest am gleichen Ende der vom Okeanos begrenzten Erde gedacht sein müßten (so Lesky 1948, 28). In der Ilias sind die Aithiopier zwar auch am Okeanos zu finden (Hom. Il. I 423.424; XXIII 205-207), aber in der Odyssee sind sie zudem als "zweigeteilt" an gegenüberliegenden Enden der Erde lokalisiert: Sowohl am Aufgangs- als auch am Untergangsort der Sonne (Hom. Od. I 22-24) 441. Diese Mitteilung spricht aber gegen die Annahme, daß die Aithiopier "nach altem Glauben" nur im fernen Osten vermutet wurden und erst "frühe ionische Spekulation" den östlichen Aithiopiern ebensolche im Westen beifügte (so Lesky 1948, 28). Wenn man sich die Aithiopier indes als auf beiden Seiten der Erde angesiedelt vorstellte, können der Palast und die Stadt des Aietes im Land von Aithiopiern stehen, ohne daß damit der ebenfalls bei Aithiopiern wartende Sonnenwagen am gleichen Ende der Welt stehen muß.

Untersuchungen der entfernteren Teile Asiens erfolgten nach der Aussage des Herodot erst während der Herrschaftszeit des Dareios (Hdt. IV 44,1), und somit dürften auch den Ioniern kaum wesentlich vor Hekataios gesicherte Kenntnisse über die östlichsten Bereiche der Oikumene zur Verfügung gestanden haben 442. Auch die Kenntnisse über die Inder 443, die "alle die gleiche Farbe, nämlich dieselbe wie die Aithiopier" hätten (Hdt. III 101,1; vgl. dazu III 104,2), werden erst nach der persischen Eroberung Ioniens in der Mitte des sechsten Jahrhunderts v.Chr. an die kleinasiatische Westküste gedrungen sein. Die Erwähnung von "Aithiopiern des Ostens", die sich "den Indern angeschlossen" hätten (Hdt. VII 70,1), belegen das Fortleben "homerischer" Vorstellungen von den "zweigeteilten" Aithiopiern im neuen ethnographischen Weltbild der Ionier, denn die "eigentlichen" Aithiopier 444, die durch ihre Langlebigkeit gekennzeichnet sind, werden inzwischen am Südrand Libyens 445 lokalisiert (Hdt. III 17-23.114).

Bei den Griechen, die tatsächlich bis in den äußersten Osten des Schwarzen Meeres vordrangen, muß sich die Erkenntnis durchgesetzt haben, daß dort keine "homerischen" Aithiopier zu finden waren. Wenn aber die Beschreibung des Herodot der Bewohner des als Aia identifizierten Kolchis am Phasis als dunkelfarbig und wollhaarig (Hdt. II 104,3) deutlich zeigt, daß er sich in diesem Fall von seinen Vorstellungen von den südlichen Aithiopiern leiten ließ (vgl. Hdt. VII 70,2), so ist dies - entgegen der eigentlichen Absicht Herodots - ein überzeugender Beweis dafür, daß dieser sicherlich nie selbst in Kolchis war. Vielmehr hat Herodot hier versucht, eine auf der Analyse griechischer Mythen beruhende Vermutung - nämlich die Dunkelhäutigkeit der Kolcher als Folge ihrer Nähe zur aufgehenden Sonne - als Beweis für seine Autopsie des östlichen Schwarzmeergebietes zu benutzen.

Die erste Erwähnung von "Kolchis" findet sich in Fragmenten der "Korinthiaka" des Eumelos von Korinth 446, der die Erzählung von den Argonauten in seinem Werk mit korinthischen Traditionen verband (Will 1955, 85-129; Allen 1993, 90). Als Ziel der Argonautenfahrt scheint Kolchis somit einer zunächst korinthischen Variante dieses Epos zu entstammen.

Die frühesten epigraphischen Zeugnisse mit dem Namen "Kolchos" finden sich auf zwei in Athen gefundenen schwarzfigurigen Gefäßen, einer Hydria und einer Amphore, die in die Mitte des sechsten Jahrhunderts v.Chr. datiert werden können (Boardman 1974, 12; Cecchladze 1990, 152). Diese "Meisternamen ethnischer Form" wurden häufig als Beleg für die Herkunft der Handwerker gedeutet (Kretschmer 1894, 75.76). Aus dem Apollontempel von Didyma stammt eine ebenfalls in das sechste vorchristliche Jahrhundert datierte, dunkelgraue Bodenscherbe einer Schale, auf deren Innenseite ein höchstwahrscheinlich zu "Kolch[os]" zu ergänzendes Graffito eingeritzt ist (vgl. Naumann u. Tuchelt 1964, 57 Taf. 25,1). G.R. Cecchladze wies darauf hin, daß die Namen "Kolchis" und "Kolchoi" als Bezeichnung des Landes und des dort lebenden Volkes zumindest in georgischen Schriftquellen nicht bezeugt sind und folgerte daraus, daß nur die Griechen das westliche Georgien und seine Bewohner Kolchis bzw. Kolcher genannt hätten. Zur Bekräftigung dieser These führte er zusätzlich an, daß "Kolchis" als Eigenname in fast allen bekannten Fällen sogar sicher griechischen Personen zuzuweisen sei (Cecchladze 1990, 153-156).

Nun finden sich aber in den Annalen des urartäischen Königs Sarduri II. für die Mitte des achten vorchristlichen Jahrhunderts Hinweise auf Feldzüge in ein nördlich von Urartu gelegenes und Qulcha genanntes Land (König 1955-57, Nr. 103 § 3 III); es liegt nahe, in diesem Land Qulcha der Urartäer das Land Kolchis der Griechen zu identifizieren (Salvini 1995, 70.71; vgl. Haas 1978, 243).

Zu Beginn der milesischen Kolonisation muß die pontische Region der Inbegriff nordöstlicher Ferne und Unwirtlichkeit gewesen sein (Focke 1951, 584). Dadurch, daß vom Ziel der Argonauten, dem inzwischen mit Aia gleichgesetzten Kolchis, eine östliche bzw. nordöstliche Lage angenommen wurde, folgten die Milesier bei ihren Fahrten in den Pontos Axeinos gleichsam den Spuren der Argonauten. Auch das unfreundliche Meer 447 erschien sicher weniger schrecklich, wenn man den Spuren dieser Heroen folgen konnte (Burn 1960, 116). So wurden längs der Schwarzmeerküste Kleinasiens bis zu dessen östlichem Ufer die mit der Argonautensage verbundenen Orte lokalisiert, wobei die neuen Gründungen den begreiflichen Wunsch hatten, die Geschichte ihrer Städte mit diesem berühmten Abenteuer zu verbinden 448, was zu Erweiterungen des ursprünglichen Epos geführt hat. Wenn sich in diesen "pontischen Argonautika" wahrhaftig die milesische Erkundung des Schwarzen Meeres widerspiegeln sollte (Merkelbach 1951, 201; Dowden 1979, 302), so kann man den Dichter, der die Fahrt erstmals eindeutig in das Schwarze Meer verlegte und dessen Erzählung sicher eine der Vorlagen des Apollonios Rhodios und auch aller späteren Argonautika gewesen sein muß, in Milet oder zumindest in Ionien 449 vermuten (Radermacher 1938, 217; Ehrhardt 1983, 228; 1990, 20). Als milesische Kolonisten 450 ein Land im östlichsten Winkel des Schwarzen Meeres erreicht hatten, mußten sie also in diesem das Land Aia der ihnen bekannten Argonautensage identifizieren. Eventuell führte die einheimische Bezeichnung Qulcha zur Prägung des griechischen Namens Kolchis für diese Landschaft, wobei möglicherweise der Milesier Hekataios zur weiten Verbreitung dieser Ansicht beitrug (vgl. Lipka 1995, 66 Anm. 7.8). Somit erscheinen die Bearbeitung und die Verbreitung des Argonautenepos durch Ionier geradezu als Aufruf zu einer "Eroberungsfahrt" in ein Land, dessen Reichtum 451 den Griechen durch die Nennung des ehemals in Kolchis aufbewahrten "Goldenen Vlieses" sprichwörtlich erschienen sein muß (Lordkipanidse 1991, 128). In der modernen Forschung aber scheint sich - außer bei den Georgiern (vgl. Lordkipanidse 1996, 353) - die Erkenntnis durchzusetzen, daß das Land Aia keinen Platz in der realen Geographie hat, sondern vielmehr zu den zahlreichen Orten an den Rändern der Erde gehört, die in das Reich der Phantasie gehören (so Tsetskhladze 1994, 114).


439 Die Argonauten sollen die Symplegaden - das berichtet Homer bei der Erwähnung der Argo in der Odyssee - aber auf ihrem Rückweg von Aietes passiert haben (Hom. Od. XII 69-72).
440 Aia heißt bei Homer die Insel der Kirke, der als Ort des Sonnenaufgangs (Hom. Od. XII 3.4) östliche Lage zuzuweisen ist. Daß Kirke eine Schwester des Aietes ist (Hes. theog. 956-958), kann aber kaum als Indiz für geographische Nähe ausgewertet werden. Die Namensgleicheit und die gemeinsame Lokalisierung am bzw. in der Nähe des Okeanos soll eher auf beider Abstammung von Helios und Perse, einer Tochter des Okeanos, hinweisen (Hom. Od. X 135-139).
441 Der Namen "Aithiopes" = "Brandgesichter" oder "Menschen mit (sonnen)verbranntem Gesicht" läßt sich mit dieser Nähe zur Sonne erklären, die ihre Haut verbrannt haben soll.
442 Die frühesten in Kolchis nachweisbaren griechischen Importe stammen aus archaischer Zeit, in etwa also von der Wende vom siebten zum sechsten Jahrhundert v.Chr. (vgl. Kacharava 1995). Zu bedenken ist aber, daß die Anwesenheit von griechischer Keramik nicht automatisch auf die Anwesenheit von Griechen zu schließen erlaubt.
443 Herodot glaubt, daß die Inder von Osten, also vom Aufgang der Sonne her gesehen, das erste Volk Asiens seien (Hdt. III 98,2).
444 S. Tohtasjev stellt dies geradezu auf den Kopf, indem er von den Aithiopiern berichtet, daß sie im Epos ein mythisches Volk waren, das bereits nicht mehr im Süden, sondern im äußersten Osten lebte (Tohtasjev 1996, 45).
445 Aischylos war vermutlich der erste Grieche, der Aithiopier durch die Nennung des Nils nachweislich in Afrika lokalisierte (Aischyl. Prom. 807-812). Jedoch läßt die Erwähnung von Greifen und Arimaspen unmittelbar vor diesem Bericht über das Land am Nil (Aischyl. Prom. 805.806) daran zweifeln, ob Aischylos damit geographische und ethnographische Kenntnisse demonstrieren wollte.
446 Die zeitliche Einordnung des Eumelos von Korinth ist problematisch. Clemens von Alexandria berichtet beispielsweise nur, daß Eumelos früher als Archilochos gelebt habe und ein Zeitgenosse des Archias, des Gründers von Korinth, gewesen sei (Clem. Strom. I 131,8). Die Datierungen des Eumelos durch neuzeitliche Forscher schwanken zwischen dem späten achten (Seeliger 1884-1886, 532; Roebuck 1959, 117) und dem frühen siebten vorchristlichen Jahrhundert (Dihle 1970, 154).
447 Zum Wandel des Pontos Axeinos zum Pontos Euxeinos vgl. Kap. "5.2.1 Zur Benennung des Pontos Euxeinos".
448 Spuren sollen die Argonauten sowohl an den Küsten des Schwarzen Meeres (Strab. I 2,39) als auch in Großgriechenland hinterlassen haben (Strab. I 2,10).
449 An Bord der Argo befanden sich nach der Überlieferung der Argonautika des Apollonios Rhodios insgesamt fünf Steuermänner, von denen zwei - nämlich der Milesier Erginos und der Ancaios von Samos - aus Ionien stammten (Apoll. Rhod. I 185-189; II 864-898). Eventuell läßt sich diese Vielzahl der Navigatoren mit dem nachträglichen Zufügen von Personen zur Unterstreichung der Wichtigkeit bestimmter Stadtstaaten für die Erkundung fremder Regionen erklären (vgl. Vian 1982, 278).
450 Die in Kolchis gelegene Stadt Phasis ist zwar bei Stephanos von Byzanz als milesische Kolonie bezeugt (Steph. Byz. 661,1; vgl. Mela I 108), aber über den Zeitpunkt und den Charakter dieser Gründung bestehen in der Forschung unterschiedliche Meinungen (vgl. Ehrhardt 1984).
451 Strabon gibt den Gold-, Silber- und Erzreichtum explizit als Grund für den Argonautenzug an (Strab. I 2,39).


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