4.4.1.3 Schwarzes Meer und nordpontisches Gebiet

Die Angaben des Herodot über das Meer, das von den Griechen Pontos Euxeinos genannt wurde 234, beschränken sich im wesentlichen auf seine Abmessungen. Zu beachten ist allerdings, daß Herodot dabei nicht auf Vermessungen im heutigen Sinne zurückgreifen konnte, sondern daß er die Abmessungen des Schwarzen Meeres, des Bosporos und des Hellespont anhand von durchschnittlichen Reisezeiten und Schiffsgeschwindigkeiten berechnete (vgl. Hdt. IV 86,1-3). Ob Herodot mit dieser Berechnung aber wirklich umfangreiches Wissen über das Schwarze Meer aus erster Hand beweist (so Luce 1997, 20), muß geprüft werden.

Herodot gibt die größte Länge des Pontos Euxeinos mit 11.100 Stadien, die breiteste Stelle mit 3.300 Stadien an (Hdt. IV 85,2). Während aber seine Angaben zu den Abmessungen der Propontis, des Bosporos und des Hellespont relativ genau sind (Hdt. IV 85,2-4), irrt sich Herodot in dieser Schätzung der Größe des Schwarzen Meeres, dessen Breite er mit 610 Kilometern zwar nur rund 40 Kilometer zu kurz angibt 235, aber die von ihm errechnete Länge ist mit rund 2.250 Kilometern mehr als 500 Kilometer zu groß (vgl. Lister 1979, 37). Diese Fehlberechnung der Ausdehnung des Pontos Euxeinos findet ihre Steigerung in der Fehleinschätzung der Abmessungen der Maiotis, des heute "Asowsches Meer" genannten nordöstlichen Seitenbeckens des Schwarzen Meeres, das Herodot "nicht viel kleiner" als das Schwarze Meer selbst schätzt (Hdt. IV 86,4).

Somit ist deutlich, daß Herodot über die Gewässer im unmittelbaren griechischen Einflußbereich, vor allem also dem Eingangsbereich zum Schwarzen Meer, recht genaue Kenntnisse besaß, während mit wachsender Entfernung vom griechischen Zentralgebiet die Genauigkeit deutlich abnahm. So existierten an der westlichen und nördlichen Küste des Schwarzen Meeres zwar bereits verstreut griechische Siedlungen, aber zwischen diesen und vor allem von ihnen aus landeinwärts lagen die Einöden Thrakiens und Skythiens, die allein von wilden Nomadenstämmen bevölkert schienen. Herodot gibt an, daß er bei seinem Aufenthalt an der Nordküste des Schwarzen Meeres Erkundigungen über diese Völker des Nordens eingezogen und auch versucht habe, Informationen über die geographischen Verhältnisse der weiter nördlich liegenden Gebiete zu erhalten (vgl. Hdt. IV 16). Aber er muß zugeben, daß über die Länder, die nördlich des "eigentlichen Skythien" liegen, niemand etwas Bestimmtes mitzuteilen hatte 236. R. Rolle begründete das Interesse des Herodot für die Gegenden nördlich des Schwarzen Meeres damit, daß er die Schauplätze bestimmter Ereignisse - im besonderen das Gelände des persischen Skythenfeldzuges - besuchen und deren geographische Gegebenheiten überprüfen wollte, da er in seinem vierten Buch ausführlich vom Feldzug des Dareios gegen die Skythen erzählt (Rolle 1980, 13). Auffallend ist dann aber, daß Herodot die Geographie gerade derjenigen Teile der west- und nordpontischen Steppen, in denen sich die Kämpfe der Perser mit den Skythen abgespielt haben müssen, nur kursorisch und oberflächlich behandelt, während er sehr ausführlich von der Erkundung der Teile Europas spricht, welche nach heutigen geographischen Vorstellungen dem östlichen Europa 237 zugerechnet werden und die mit dem Skythenfeldzug des Dareios in keiner irgendwie erkennbaren Beziehung stehen (Fritz 1967, 107.119). Man muß angesichts der Tatsache, daß Herodot an keiner Stelle von einem Erscheinen des persischen Heeres vor einer griechischen Stadt der Schwarzmeerküste berichtet 238, bezweifeln, ob die Perser überhaupt so weit in den Norden vorgedrungen waren, wie Herodot behauptet.

Herodot folgt mit seinen Beschreibungen wohl eher einem allgemeinen geographischen Interesse, und ihm scheint deshalb die Frage nach den Grenzen Europas im Osten und Norden 239 wichtiger zu sein (vgl. Hdt. IV 45,1) als die Überprüfung historischer Aussagen anhand von erdkundlichen Gegebenheiten. Die Suche nach geographischen Grenzen, die Herodot eine Einteilung der bekannten Welt erlauben, prägt auch seine Beschreibung der an das Schwarze Meer reichenden Länder. So bezeichnet Herodot den Istros 240, den er für den größten aller Ströme hält, als den ersten Fluß im Skythenland von Westen her gesehen (Hdt. IV 48,1; IV 51,1), was ihn somit zur Grenze zwischen Thrakien und Skythien macht.

Als den zweiten Fluß in Skythien nennt Herodot den Tyras (Hdt. IV 51,2), der damit als heutiger Dnjestr identifiziert werden kann. Dieser Fluß ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil mit ihm die westlichste Ortsangabe für ein Auftreten von Kimmeriern in Europa verbunden ist. Nach der Erzählung Herodots hat am Tyras der Bruderkampf zwischen den Kimmeriern stattgefunden, und dort ist auch das Grab der in diesem Streit Gefallenen zu finden (Hdt. IV 11,4) 241. Ob damit aber der Tyras als die äußerste westliche Grenze des Gebietes definiert werden kann, in dem die Kimmerier nomadisiert hätten (so Gold 1984, 15), darf bezweifelt werden. Folgt man der Erzählung Herodots, so müßte in diesem westlichen Bereich Skythiens eher das Kerngebiet der Kimmerier gelegen haben, weil dort sogar deren Ratsversammlung stattgefunden hatte (vgl. Hdt. IV 11,2). Aber auch wenn man die Frage nach der westlichen Ausdehnung eines postulierten Kimmeriergebietes unbeachtet läßt, so ist es dennoch schwierig, die am Tyras beginnende "Flucht" vor den aus Osten anrückenden Skythen mit den realen geographischen Gegebenheiten zu vereinbaren. Denn die Kimmerier sollen nach Osten abgezogen und entlang der Ostküste des Schwarzen Meeres nach Kleinasien gelangt sein. Auf der zurückzulegenden Strecke hätten sie dazu aber zumindest die Flüsse Hypanis (Hdt. IV 52,1) und Borysthenes (Hdt. IV 53,1), die "rauhe" Chersonesos (Hdt. IV 99,3) und auch noch den Kimmerischen Bosporos (Hdt. IV 100,1) zu überqueren gehabt. Erst nach Überwindung dieser Strecke wären die Kimmerier in ein Gebiet gelangt, das häufig als ihr "eigentliches" Siedlungsgebiet bezeichnet wird 242. Dort hätten die Kimmerier aber mit den vordringenden Skythen zusammentreffen müssen. Ein derartiger Verlauf der "Flucht" ist nicht wahrscheinlich, was auch Herodot hätte auffallen müssen, wenn seine Reise der Überprüfung historischer Ereignisse gedient hätte.

Die ausführlichen Beschreibungen der küstennahen Landstriche (vgl. Hdt. IV 99) belegen zumindest, daß Herodot für diese Gebiete auf umfangreiche Quellen zurückgreifen konnte. Die Reisen Herodots, die ihn auch in den Schwarzmeerraum geführt haben sollen und ihm somit die Möglichkeit geboten hätten, die entsprechenden Gebiete aus eigener Anschauung kennenzulernen, werden zumeist als Tatsache angesehen (vgl. Schepens 1980, 52). Sicherlich konnte Herodot auf Aufzeichnungen von Seefahrern, sogenannte "Umsegelungen", zurückgreifen. Diese Niederschriften griechischer Kapitäne enthielten normalerweise außer Navigationsanweisungen auch genaue Beschreibungen der Küsten, entlang derer die Seefahrtsrouten verliefen (Hartog 1988, 228.229). Aber die Angaben des Herodot werden fragwürdiger, je weiter landeinwärts sich die geschilderten Landschaften befinden. Fehlende Zeugen werden von Herodot häufig durch eigene Vermutungen (vgl. Hdt. V 10) oder Analogieschlüsse (vgl. Hdt. II 33,2; IV 31) ersetzt. So muß schließlich festgestellt werden, daß bedeutende Diskrepanzen zwischen der herodotischen Beschreibung Skythiens und der geographischen Wirklichkeit bestehen (vgl. dazu Sieberer 1995, 82-90). Es stellt sich somit die Frage - auch angesichts der Tatsache, daß die Angaben zu den Abmessungen von Schwarzem Meer und der Maiotis große Ungenauigkeiten enthalten -, ob die Reisen des Herodot ihn überhaupt so weit geführt haben, wie seine Erzählungen es suggerieren (vgl. Armayor 1978a; 1980). Wenn jedoch davon ausgegangen werden muß, daß die geographischen Angaben Herodots zum Nordschwarzmeergebiet mit der geographischen Realität nicht übereinstimmen, so können diese Daten nicht dazu verwendet werden, die herodotischen Aussagen bezüglich historischer Ereignisse zu untermauern.


234 Vergleiche dazu Kap. "5.2.1 Zur Benennung des Pontos Euxeinos".
235 Zur Umrechnung der antiken Maßangaben siehe die Bemerkungen von Dicks 1960, 43.
236 Herodot berichtet, daß er niemand getroffen habe, der diese Länder aus eigener Anschauung zu kennen behauptete. Dennoch teilt er mit, was er "durch Erkundigungen über diese nördlichen Länder habe feststellen können" (Hdt. IV 16,1). Auffälligerweise stimmt die von ihm anschließend gegebene Beschreibung Skythiens (Hdt. IV 16-22) nicht mit der überein, die er an anderer Stelle gibt (Hdt. IV 99-101). Scheinbar hat Herodot aus unterschiedlichen Quellen geschöpft, deren Aussagen er nicht zu einem überzeugenden Ganzen zusammenführen konnte (vgl. Waters 1985, 88.158).
237 Herodot versteht unter Europa, zumindest als dessen Kerngebiet, vor allem das heutige Griechenland und die Balkanhalbinsel (vgl. Hdt. I 4,4). Somit darf auch unter dem Norden Europas nicht Nordeuropa im Sinne moderner Geographievorstellungen verstanden werden. Wenn nun Herodot vom "nördlichem Europa" berichtet, ist dieses weitgehend mit dem Osteuropa heutiger Definition gleichzusetzen. Allerdings führte auch die ungenügende Kenntnis der Abmessungen Mittelasiens dazu, daß dieses bloß als "Anhängsel" Europas verstanden wurde.
238 Betrachtet man die Probleme, die den Persern die Nahrungsmittelversorgung gemacht haben soll (Hdt. IV 128,2; IV 130; IV 131,1), wäre es sicherlich sinnvoll erschienen, sich der Unterstützung dieser Griechen zu versichern, zumal neben anderen Ioniern auch Histiaios, der Tyrann Milets - der Mutterstadt der überwiegenden Zahl der Pflanzstädte -, unter den Teilnehmern des Feldzuges war (Hdt. IV 137-138).
239 Die Klärung der Frage nach der Nordgrenze schien Herodot deshalb von Bedeutung zu sein, weil zahlreiche Gerüchte über den Norden existierten: Über den Eridanos, einen in ein Nordmeer mündenden Fluß, über dieses Nordmeer, von dem der Bernstein stamme, und über nördliche Zinninseln. Herodot glaubte aber, diese Nachrichten weitgehend als Erfindungen abtun zu können, weil er niemanden finden konnte, der dieses Nordmeer mit eigenen Augen gesehen hatte (Hdt. III 115).
240 Istros war der Name der heutigen Donau.
241 Gerade der Hinweis auf das noch zur Zeit Herodots zu besichtigende Grab am Tyras zeigt, daß zumindest er fest an diese westliche kimmerische Ausdehnung glaubte.
242 So beschrieb H. Kothe eine Einwanderung der Skythen in die pontische Steppe, die sie zu "Herren der kimmerischen Bevölkerung östlich und der skolotischen westlich der Krim" gemacht haben soll (Kothe 1969, 81). Auf einer "die Welt Herodots" darstellenden Karte siedelte A. de Sélincourt die Kimmerier ebenfalls an der Nordostküste des Schwarzen Meeres an (De Sélincourt 1967, 16.17).


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