4.4.1.2 Kolchis und der Kaukasus

Herodot behauptet, auf einer Reise ins Schwarzmeergebiet bis nach Kolchis gefahren und somit bis zum Südrand des Kaukasus gelangt zu sein. Daß Herodot dort war, scheint sich zunächst aus der Behauptung ableiten zu lassen, daß er die Ähnlichkeit zwischen den Kolchern und den Ägyptern, die er auf die Abstammung der Kolcher von ägyptischen Soldaten des Pharaos Sesostris zurückführt, selbst bemerkt habe, bevor ihn jemand anderes darauf aufmerksam gemacht habe (Hdt. II 104,1) 225. Zwar könnte Herodot Kolcher auch in Athen angetroffen haben (vgl. Cecchladze 1990), aber er gibt explizit an, daß er in Kolchis selbst entsprechende Erkundigungen eingezogen habe (Hdt. II 104,2). Detaillierte Analysen herodotischer Aussagen, welche eine Autopsie bestimmter Weltgegenden behaupten, können allerdings ernsthafte Zweifel aufkommen lassen, ob derartigen Bemerkungen des Herodot immer getraut werden kann (vgl. Armayor 1980; 1985). Dies trifft auch für den Fall der erwähnten Ähnlichkeit zwischen Kolchern und Ägyptern zu, die erst durch eigene Anschauung entdeckt worden sei. In seiner vierten pythischen Ode, die im Jahr 462 v.Chr. zum ersten Mal aufgeführt worden ist, bezeichnet beispielsweise auch Pindar die Kolcher als dunkelhäutige Menschen (Pind. Pyth. IV 212). Herodot mußte also nicht nach Kolchis reisen, um von einer - zumindest von ihm behaupteten - dunklen Hautfarbe seiner Bewohner Kenntnis zu erlangen. Allerdings ist zu prüfen, ob die Kolcher wirklich dunkelhäutig waren.

Die frühesten bekannten Darstellungen von dunkelhäutigen Menschen auf attischen Vasenbildern - es handelt sich um an der Seite der Trojaner kämpfende Aithiopier - stammen aus der Zeit des Exekias (Raeck 1981, 169), dessen Hauptschaffenszeit etwa in das dritte Viertel des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts fällt (Boardman 1977, 62-64). Daß sich in Darstellungen von Schwarzen in der griechischen Vasenmalerei auch Ägypter identifizieren lassen (Raeck 1981, 176), läßt darauf schließen, daß von diesen ebenfalls eine dunkle Hautfarbe angenommen wurde 226.

Die Angaben Herodots zum Land Kolchis beschränken sich auf wenige Informationen: So betrage die Entfernung von der Maiotis zum in Kolchis gelegenen Fluß Phasis 30 Tagesreisen (Hdt. I 104,1), und Aia, das sagenhafte Ziel der Fahrt der Argonauten, soll in Kolchis gelegen haben (Hdt. I 2,2). Diese Erwähnung von Aia bietet aber eine Möglichkeit, die herodotischen Beschreibungen dunkelhäutiger Kolcher zu erklären. Weil sich in Aia die Stadt des Aietes befindet, wo der Sonnengott in einem Gemach seine Strahlen aufbewahrt, verbanden sich mit diesem Mythos die Vorstellungen von den von der Sonne verbrannten Aithiopiern 227. Mit der Identifizierung von Aia im Land Kolchis gingen diese Vorstellungen auf die Kolcher als Bewohner des Landes über, und somit erklärt sich die Beschreibung der Kolcher durch Pindar als dunkelhäutig auch aus diesem Umstand. Folglich kann das von Herodot als Beweis seiner Schwarzmeerreise angeführte Argument der Ähnlichkeit zwischen Kolchern und Ägyptern 228 eher dazu dienen, seine Behauptung eines eigenen Aufenthalts in Kolchis als Lügenmärchen zu erkennen, als daß sie zu deren Bestätigung dient 229. Die den Kolchern nachgesagte Dunkelhäutigkeit wird zudem nicht von allen Kennern der Länder an den Schwarzmeerküsten bestätigt. In der hippokratischen Schrift "Über Winde, Wasser und Ortslagen" werden die Anwohner des Phasis sogar als mit bleicher Haut wie bei den Gelbsüchtigen geschildert (Hippokr. aër. XV 20-24).

Als Grenze zwischen Europa und Asien im Bereich zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer gibt Herodot mit dem Tanais und dem Phasis zwei Flüsse zur Auswahl. Es fällt auf, daß der Tanais, der heutige Don, deutlich nördlich des Kaukasus zu finden ist, während der Phasis, der heutige Rion, südlich dieses Gebirges verläuft. Es drängt sich der Eindruck auf, daß die Wahl eines der Flüsse als jeweilige Grenzlinie davon abhängig war, aus welcher Richtung der Betrachter sich dieser Grenze näherte. Ein aus Europa von Westen bzw. Nordwesten kommender Reisende könnte den Tanais bzw. eine von den "kimmerischen Hafenplätzen" landeinwärts führende Linie als Grenze Europas aufgefaßt haben, während jemand, der sich aus Asien von Süden dem Kaukasus näherte, wohl den Phasis als Grenze Asiens betrachtete. Das damit jeweils hinter dieser Grenze liegende Gebirge scheint sich dabei der Kenntnis der Betrachter gleichsam entzogen zu haben. So beschreibt Herodot den Kaukasus als eine sich an der Westseite des Kaspischen Meeres hinziehende Bergkette, die ihm zwar als das ausgedehnteste und höchstragende Gebirge bekannt ist (Hdt. I 203,1), von der er aber ansonsten nur berichten kann, daß dieses Gebirge von "vielen verschiedenartigen Volksstämmen, die fast ganz von wilden Früchten leben", bewohnt sei (Hdt. I 203,2). Zwar spricht auch Herodot an keiner Stelle den Gedanken direkt aus, den Kaukasus als Trennlinie zwischen den Erdteilen anzusehen, aber aus der von ihm geschilderten persischen Sicht scheint der Kaukasus durchaus eine klare "politische" Grenze bedeutet zu haben, weil das persische Reich bis zu den Kolchern und deren Nachbarn am Kaukasus gereicht haben soll, während die Völker nördlich des Gebirges 230 unbehelligt blieben (Hdt. III 97,4).

Auch Herodot selbst kann, wenigstens auf dem Landweg, über Kolchis in Richtung Norden nicht hinausgekommen sein. Er gibt nämlich an, daß die fliehenden Kimmerier immer am Ufer des Pontos entlang nach Süden gezogen seien (Hdt. IV 12,3). Wäre ihm dieses Gebiet aber wirklich bekannt gewesen, so hätte er bemerken müssen, daß die nach seiner Ansicht von den Kimmeriern bei ihrem Einfall nach Asien genommene Route geographisch unmöglich ist. Am Schwarzen Meer entlang oder auch in dessen direkter Nachbarschaft im westlichen Kaukasus gibt es überhaupt keine für größere Heereszüge oder Nomadenhorden passierbare Straße (Minns 1913, 41; Lehmann-Haupt 1921, 398; Fritz 1967, 129) 231. Dies war wohl auch der Hauptgrund, warum der Römer Pompeius im Laufe des dritten Mithradatischen Krieges darauf verzichtete, den über den Kaukasus in das Bosporanische Reich flüchtenden pontischen König zu verfolgen (vgl. Dreher 1996, bes. 200). Mithradates selbst reiste zwar entlang der Küste, allerdings mit wenigen Begleitern, und legte zudem einen Teil der Strecke zu Schiff zurück (Gajdukevic 1971, 319). Die von Herodot aufgestellte Behauptung, daß die Entfernung von der Maiotis bis zum Phasis und dem Land der Kolcher für einen rüstigen Wanderer 30 Tage 232 betrage (Hdt. I 104,1), bezieht sich zweifellos nur auf einzelne Reisende und kleinere Gruppen 233.


225 Die Beschreibung des Herodot der Kolcher als "dunkelfarbig und wollhaarig" findet ihre Entsprechung in derjenigen der sogenannten libyschen Aithiopier (vgl. Hdt. VII 70).
226 Eine Bemerkung des Herodot anläßlich seines Berichts über das Zeus-Orakel in Dodona läßt vermuten, daß zumindest dieser sich die Ägypter als dunkelhäutig vorstellte: Die Erzählung von einer schwarzen Taube deutet er als Anspielung auf eine Ägypterin als Begründerin des Orakels (Hdt. II 57). Wenig überzeugend ist aber die Ansicht von W.W. How und J. Wells, daß die "zahlreichen Negersklaven, die Herodot in den Straßen von Memphis" gesehen habe, die Vorstellung Herodots von schwarzen Ägyptern geprägt habe (How u. Wells 1957, 218). Eher ist daran zu denken, daß Herodot aithiopische Soldaten im Heer des Sesostris vermutet, da seiner Meinung nach Sesostris der einzige ägyptische König war, der auch Aithiopien beherrschte (Hdt. II 110).
227 Vgl. hierzu Kap. "7.2.3.3 Aia und Kolchis".
228 Die Vorstellung einer Abstammung der Kolcher von den Ägyptern war zwar verbreitet (Diodor. I 55,5; Val. Fl. V 415-421; Dion. Periheg. 689; Amm. Marc. XXII 8,24), aber diese scheinbaren Bestätigungen der Behauptung des Herodot erweisen sich, zumindest wenn eine Begründung dieser Ansicht gegeben wird, anhand der nahezu wörtlichen Wiederholung der herodotischen Argumentation von diesem direkt abhängig. Auch bei Strabon findet sich ein Hinweis auf die Verwandtschaft zwischen den Kolchern und den Ägyptern, jedoch wiederholt Strabon nur das auch von Herodot benutzte Argument der ähnlichen Leinenfabrikation, ohne auf die angebliche Dunkelhäutigkeit der Kolcher einzugehen (Strab. XI 2,17).
229 Der von P.T. English unternommene Versuch, die herodotische These von dunkelhäutigen Kolchern mit der Existenz von Schwarzen in Abchasien nahe bei Suchumi zu belegen (English 1959), ist abwegig. Deren Erklärung durch den Sklavenhandel in Osmanischer Zeit ist durchaus plausibel.
230 An gleicher Stelle berichtet Herodot von diesen Völkern, daß sie sich selbst eine freiwillige Steuer auferlegt hätten, die sie alle vier Jahre dem persischen König geschickt hätten. Auffällig ist, daß Herodot keine Namen der Völker nennt und er in seiner Beschreibung Skythiens, die auch die nördlich des Kaukasus befindlichen Gebiete streift, keinerlei Andeutungen über diese Völker macht. Dabei nennt Herodot als östlich an die Skythen anschließende Völker klar Sauromaten (Hdt. IV 21) und Sinder (Hdt. IV 28,1). Somit scheint die Angabe, daß selbst die Völker jenseits der Grenzen des persischen Reiches Tribute gezahlt hätten, eher auf persische Propaganda zurückzugehen, die Herodot hier wiederholt.
231 Die von U.L. Dietz als Beleg für einen Hauptverkehrsweg entlang der Schwarzmeerküste angeführte Darstellung der Wanderungen der Io durch Aischylos dürfte wohl kaum als ernstzunehmende Reiseroute gewertet werden (vgl. Dietz 1998, 5.6 Anm. 7).
232 Folgt man Herodots Auskunft, die einen Tagesmarsch mit durchschnittlich 150 Stadien angibt (Hdt. V 53), so müßte die Entfernung von der Maiotis bis zum Phasis mit 4.500 Stadien angenommen werden, was rund 830 Kilometern entsprechen würde. Zur Berechnung der Stadienlänge vgl. die Bemerkungen von Dicks 1960, 43. Zu beachten ist allerdings, daß Herodot damit keine Entfernungsmaße im eigentlichen Sinne angibt, sondern "Wegzeitmaße". Die in einer bestimmten Zeit zurücklegbare Entfernung ist dabei stark von der Art der Strecke abhängig und somit sind derartige Angaben des Herodot kaum mit modernen Karten und den darauf ablesbaren Entfernungen - also Luftlinie - zu überprüfen. Zudem gibt Herodot an anderer Stelle einen Tagesmarsch mit 200 Stadien an (Hdt. IV 101,4).
233 Auch die karthagische Alpenüberquerung unter Hannibal wird nicht als solche als außergewöhnliche Leistung angesehen. Das besondere dieses Zugs über die Alpen bestand eben in dem Umstand, daß ein ganzes Heer, zumal mit umfangreicher Reiterei, mit einem enormen Bedarf an Vorräten aller Art dieses Wagnis unternahm. Hannibal bedurfte hierbei großer rhetorischer Anstrengungen zur Motivation seiner Truppen (vgl. Liv. XXI 30).


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