4.4.1.1 Die Grenze zwischen Asien und Europa

Im Rahmen einer Behandlung der "Geschichte der Kimmerier und Skythen" anhand schriftlicher Quellen ist eine Klärung der Frage nach der Grenze zwischen Asien und Europa von höchster Bedeutung, weil wesentliche Ereignisse im Zusammenhang mit Überschreitungen dieser Trennlinie gesehen werden müssen (Hdt. I 15; I 16,2; IV 11,1).

J. Harmatta versuchte zu zeigen, daß die Information über die kimmerische Invasion in Westkleinasien, die uns Herodot in seinem lydischen Logos liefert (Hdt. I 15), sich auf ein Land der Kimmerier in der Nachbarschaft von Urartu beziehen könnte, von wo aus die Kimmerier von den Skythen westwärts getrieben worden seien. Während Herodot an sechs weiteren Stellen, an denen er von Skythen und Kimmeriern erzählt, deutlich sagt, daß die ursprüngliche Heimat der Kimmerier das nordpontische Gebiet gewesen sei (Hdt. I 103,3; IV 1,2; IV 11; IV 12; IV 13,2; VII 20), scheint er die geographische Lage des von den Kimmeriern unmittelbar vor ihrem Zug gegen Lydien bewohnten Gebietes nicht näher zu bestimmen (so Harmatta 1990, 119). Aber die von J. Harmatta herangezogene Herodotstelle gibt zwar nicht detailliert an, woher die Kimmerier gekommen waren, deutlich wird dort aber gesagt, daß die Kimmerier jetzt "nach Asien" kamen. Die Kimmerier müßten also von außerhalb Asiens und somit, nach den damaligen geographischen Vorstellungen, aus Europa gekommen sein. Allerdings stimmen unsere heutigen Vorstellungen von den Ausmaßen der Erdteile und den Trennlinien zwischen ihnen nicht mit denen überein, welche die alten Griechen entwickelt hatten.

Herodot beschreibt in seinem vierten Buch anläßlich seiner Kritik der frühen ionischen Erdkarten die Größe der Erdteile Asien und Europa 216. Herodot sieht hierbei das persische Kerngebiet geradezu als Zentrum Asiens an 217, und er umschreibt die Ausmaße dieses Erdteils deshalb durch die Angabe der daran anschließenden Länder (Hdt. IV 37-39). Nördlich 218 der am "Südmeer" - also am persischen Golf 219 - wohnenden Perser reicht Asien bis zu den am "Nordmeer"- hier ist das Schwarze Meer gemeint - lebenden Kolchern. Die Nennung des Phasis 220 als in dieses "Nordmeer" mündenden Fluß könnte also als Angabe einer Grenze aufgefaßt werden (Hdt. IV 37), zumal Herodot westlich dieser von Persern und Kolchern begrenzten Landmasse Kleinasien und die arabische Halbinsel als zu Asien gehörig aufzählt, wobei er als Grenzen Kleinasiens im Nordosten ausdrücklich den Fluß Phasis bzw. im Nordwesten den Hellespont angibt (Hdt. IV 38,2). Dieser Grenzziehung zwischen Europa und Asien am Fluß Phasis folgt allerdings Herodot selbst nicht vorbehaltlos, da er wenig später behauptet, daß ihm die Gründe für die Auswahl dieser Grenzlinie unbekannt seien (Hdt. IV 45,2.3) und ihm außerdem aus anderer Quelle 221 auch der Tanais 222 bzw. die "kimmerischen Hafenplätze" 223 als Trennlinie bekannt seien (Hdt. IV 45,2).

Als Begrenzungen des östlich des Zentrums gelegenen Teils Asiens gibt Herodot im Süden das "Rote Meer" 224, im Norden das Kaspische Meer und den von Westen nach Osten fließenden Fluß Araxes an (Hdt. IV 40,1), wobei er allerdings keine Grenze Asiens nach Osten hin bestimmen kann, weil das sich an Indien als östlichstes bekanntes Gebiet anschließende Land unbewohnt sei und es somit keine Informanten über diese Gegend gebe (Hdt. IV 40,2; vgl. III 98,2.3).

Die bekannte Erde wäre also grob gesehen in zwei Hälften durch eine Linie aufgeteilt, die mit dem westlichen Mittelmeer beginnt und über den Hellespont, das Schwarze Meer, den Phasis (bzw. den Tanais) und das Kaspische Meer fortgesetzt wird und schließlich mit dem Araxes endet. Die nördliche Hälfte wurde als Europa bezeichnet, während die südliche wiederum in Asien und Libyen unterteilt wurde. Somit muß man aber davon ausgehen, daß die nördlich und nordöstlich des Araxes gelegenen Gebiete, die nach unserem heutigen Geographieverständnis Mittelasien zugerechnet werden, zur Zeit des Herodot von den Griechen als zu Europa gehörig gedacht waren.

Schwierig gestaltet sich schließlich auch die Identifizierung dieses als Grenzfluß genannten Araxes anhand der herodotischen Angaben. Die Angabe, daß der Fluß auf den Matiener Bergen entspringe (Hdt. I 202,3; vgl. I 189,1), verweist unleugbar auf den ins westliche Kaspische Meer mündenden und heute Arax genannten Fluß, wozu zudem die Beschreibung des Herodot paßt, daß sich einer der Mündungsarme des Araxes ins Kaspische Meer ergießen würde (Hdt. I 202,4). Aber damit läßt sich nicht die Behauptung vereinbaren, daß jenseits des Araxes die Massageten leben sollen (Hdt. I 201), die ein weites Flachland östlich des Kaspischen Meeres bewohnten (Hdt. I 204,1). Zudem soll der Araxes ein die Größe betreffend durchaus mit der Donau vergleichbarer Fluß sein (Hdt. I 202,1), wobei aber die Angabe, daß in diesem Fluß viele Inseln lägen, die ebenso groß wie die Insel Lesbos seien (Hdt. I 202,1), die Qualität dieser Informationen relativiert.

Es ist also nicht eindeutig zu entscheiden, welchen Fluß Herodot mit dem Namen Araxes bezeichnet. Es muß damit gerechnet werden, daß er mehrere unterschiedliche Flüsse mit diesem gleichen Namen bezeichnet, ohne sich dessen bewußt zu sein. Es muß davon ausgegangen werden, daß es Herodot an konkretem geographischen Wissen über den äußersten Osten mangelte (vgl. Sieberer 1995, 26.27).

Während also die am Hellespont festgelegte Trennung der beiden Erdteile ohne Probleme anhand der herodotischen Angaben nachzuvollziehen ist, lassen sich sowohl die westlich als auch die östlich des Kaspischen Meeres zu bestimmenden Grenzlinien - aus unterschiedlichen Gründen - heute nicht mehr eindeutig festlegen. Da zudem bereits Herodot für die zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer festzulegende Grenze mehrere Alternativen wußte, ist es wenig sinnvoll, heute einen bestimmten Fluß oder eine bestimmte Kombination von Flüssen dort als für die Aussagen Herodots relevante Grenze bezeichnen zu wollen (Hennig 1935, 254), sondern man wird sich damit abfinden müssen, daß irgendwo zwischen Tanais und Phasis - je nach benutzter Quelle der Erzählung - die Grenze anzusetzen ist. Schwerwiegender ist aber das Problem, den Araxes genannten Fluß nicht eindeutig identifizieren zu können, da es dieser Fluß gewesen sein soll, den die Skythen überschritten haben sollen, als sie, von Asien kommend, in das Land der Kimmerier einfielen (Hdt. IV 11,1).

Gleichgültig aber, ob man den heutigen Arax oder einen der Flüsse östlich des Kaspischen Meeres - beispielsweise den Amudarja - als den Araxes Herodots annimmt, so müßten die Skythen auf ihrer Flucht vor den Massageten über Turkmenistan an der Südküste des Kaspischen Meeres entlang und an der Ostflanke des Kaukasus vorbei nordwärts in das südrussische Steppengebiet eingefallen sein. Damit hätten die Skythen aber bei der anschließenden "Verfolgung" der flüchtenden Kimmerier den gleichen Weg nun südwärts genommen, den sie bereits auf dem Hinweg in der anderen Richtung gewählt hatten (so Gold 1984, 15). Aber abgesehen von der Tatsache, daß bei einer Verfolgung die Wahl des Weges nicht davon abhängig sein kann, ob er dem Verfolger bereits bekannt ist, wären die Skythen hiermit auch wieder in die Richtung gezogen, aus der unter Umständen die nachrückenden Massageten zu erwarten gewesen wären.


216 Herodot kannte zwar die von Ioniern vorgeschlagene Einteilung der damals bekannten Welt in die drei Erdteile Libyen, Asien und Europa (Hdt. IV 42,1.2), neigte selbst aber eher zu einer Vierteilung, die Ägypten als weiteren Erdteil zwischen Asien und Libyen auffaßte (Hdt. II 16). Diese unterschiedlichen Ansätze zur Aufteilung der Welt in Kontinente machen zusätzlich deutlich, wie verschwommen die Anschauungen zu den Grenzen zwischen diesen Erdteilen waren.
217 Eventuell läßt sich Herodot in seiner Beschreibung von einer Karte leiten, die dieses Gebiet als Zentrum angab. Vgl. dazu die Hinweise zur antiken Kartographie im Kap. "7.2.1.2 Bemerkungen zum griechischen Okeanos-Begriff".
218 Eine Beschreibung Kleinasiens an anderer Stelle macht deutlich, daß die Angabe von Himmelsrichtungen nicht mit modernen Assoziationen verbunden werden darf. Herodot gibt hier den Halys als Grenze zwischen dem medischen und dem lydischen Reich an, der auf diese Weise "fast das ganze untere Stück von Asien" abtrenne (Hdt. I 72,3). Somit bedeutet "oben" nicht Norden, wie wir es heute gewohnt sind, sondern Osten (vgl. dazu auch Fußnote 465).
219 Die ergänzende Angabe Herodots, daß dieses "Südmeer" auch "Rotes Meer" genannt wird (Hdt. IV 37; I 180,1), ist angesichts der modernen geographischen Bezeichnungen verwirrend, zumal Herodot diesen Namen an anderer Stelle auch für das auch heute "Rotes Meer" genannte Gewässer verwendet (vgl. Hdt. II 8,1; II 158,1). Aus ihrem Zusammenhang herausgerissen können solche Angaben zu falschen Interpretationen führen.
220 Als Phasis kann der heute Rion genannte Fluß identifiziert werden.
221 Herodot behauptet, daß er die Urheber dieser Grenzziehungen nicht in Erfahrung bringen konnte (Hdt. IV 45,2), aber seine heftigen Angriffe gegen die frühen ionischen Erdkarten, welche eben diese Erdteile unterscheiden (vgl. Hdt. IV 36), lassen den Hekataios als eine der Quellen wahrscheinlich erscheinen. Damit ist aber noch nicht geklärt, welchen der Flüsse dieser als Grenze angegeben hat.
222 Der Tanais Herodots wird häufig mit dem heute Don genannten Fluß identifiziert (vgl. Kothe 1969, 24 Anm. 1). Auch Strabon kennt den Fluß Tanais als Grenze zwischen Europa und Asien (Strab. XI 1,3; XI 7,4; vgl. Amm. Marc. XXXI 2,13). Zwar nennt auch Arrianus in seinem Periplus den Tanais als Grenze zwischen Europa und Asien (Arr. peripl. m. Eux. 19,1), aber Arrianus erwähnt in seiner Anabasis ebenso einen als Tanais bezeichneten Fluß, den Alexander auf seinem Feldzug in der Sogdiana erreicht haben soll (Arr. anab. III 30,7.8). Indem aber Curtius Rufus einen Tanais genannten Fluß mehrfach als Grenze zwischen dem Land der Skythen und Baktrien erwähnt (so Curt. VII 7,2), muß Curtius mit dem Tanais genannten Fluß als östlicher Begrenzung des von den "europäischen" Skythen besiedelten Landes den an Baktrien grenzenden Amudarja gemeint haben, der zugleich Grenze zwischen Europa und Asien wird: "Tanais Europam et Asiam medius interfluit" (Curt. VI 2,14).
223 Im "Gefesselten Prometheus" scheint Aischylos den kimmerischen Bosporos als Grenzlinie angesehen zu haben, denn die in eine Kuh verwandelte Io wechselt dort beim Überqueren der Meerenge von Europa nach Asien (Aischyl. Prom. 729-735).
224 Vgl. dazu Fußnote 219.


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