5.2.2 Zu einigen Toponymen im Schwarzmeerraum

Namenkundliche Zeugnisse werden immer wieder als Beweis dafür herangeführt, daß Kimmerier die nordpontischen Gebiete besiedelt hätten 318. Bereits M. Ebert sprach von "ältester, halbsagenhafter literarischer Tradition", nach welcher der Name der Kimmerier während des ganzen Altertums an mehreren Örtlichkeiten dieser Gebiete gehaftet habe, um diese als Anwohner der nördlichen Schwarzmeerküste bezeichnen zu können (Ebert 1921, 73.74). S.V. Machortych identifizierte das südliche Kuban-Gebiet als zentrales Siedlungsgebiet der "historischen Kimmerier", weil an dieses Volk Bezeichnungen wie "Kimmerischer Bosporos" für die Straße von Kerc in den Schriften des Herodot und des Strabon erinnern würden (Machortych 1991, 71; vgl. Parker 1997, 68.69 Anm. 285). Der inhaltliche Wert dieser "alten" literarischen Traditionen muß aber bezweifelt werden, und die Wiedergabe von Ortsbezeichnungen in den Schriften des Herodot oder des Strabon bedürfen der Überprüfung, zumal deutliche Verbindungen zwischen beiden Darstellungen bestehen. Es muß zudem darauf aufmerksam gemacht werden, daß gerade die ionischen Logographen es sich zum erklärten Ziel gemacht hatten, sagenhafte - speziell homerische - Lokalitäten zu identifizieren. Dieser Aufgabe fühlte sich jedoch, von alexandrinischen Schriftstellern vermittelt, schließlich auch im besonderen Strabon verpflichtet (vgl. Pearson 1938, 447).

Die Meinung, daß die heutige Straße von Kerc ihren früheren Namen "Kimmerischer Bosporos" nach einst an ihr wohnenden Volksstämmen der Kimmerier erhalten hat, ist bereits in der Antike sehr weit verbreitet gewesen (vgl. Strab. VII 4,3; Mela I 13; Plut. Mar. 11) 319. Dieser Name scheint der Meerenge aber erst von Griechen gegeben worden zu sein, indem diese Benennung den "Kimmerischen Bosporos" zum Gegenstück des am anderen Ende des Schwarzen Meeres befindlichen "Thrakischen Bosporos" machte 320. Die ursprüngliche, von den einheimischen Bewohnern benutzte Bezeichnung dieser Meerenge blieb im Namen der Stadt Pantikapaion erhalten, die von Milesiern dort angelegt wurde, wo sich heute die Stadt Kerc befindet. Der Name "Pantikapis" begegnet uns im Werk des Herodot nur als Name eines nicht mit Sicherheit zu identifizierenden Neben- oder Nachbarflusses des unteren Dnjeprs (Hdt. IV 18,2; IV 54,1), während nach der aus dem vierten Jahrhundert n.Chr. stammenden Darstellung des Ammianus Marcellinus damit offensichtlich die Meerenge gemeint ist, durch die sich die Maiotis in das Schwarze Meer ergießt (Amm. Marc. XII 8,39) 321. V.I. Abaev hat den Versuch unternommen, den Namen des Gewässers"Pantikapis" als iranische Wortzusammensetzung "Fischweg" (aus panti = "Weg" und kapa = "Fisch") zu interpretieren (Abaev 1949, 170.175; 1958, 184.185). Diese Auslegung kann zumindest semantisch überzeugen, da die Straße von Kerc in der Antike bekanntlich einer der ergiebigsten Fischfanggründe war (Schramm 1973, 179.180). Die Griechen, die sich im Bereich der Straße von Kerc anzusiedeln begannen, müßten hier demnach eine iranischsprechende Bevölkerung angetroffen haben, die zumeist als "skythisch" angesprochen wurde (so Schramm 1973, 180). Diese Interpretation scheint durch die Nachricht des Strabon bestätigt zu werden, daß die Skythen, die zuvor die Kimmerier vertrieben hätten, nun ihrerseits den Griechen weichen mußten, die Pantikapaion und die anderen Städte am Bosporos gründeten (Strab. XI 2,5). Kimmerier hingegen werden als Anwohner der Maiotis weder in Inschriften erwähnt, noch kann irgendein antiker Schriftsteller glaubhaft berichten, daß je ein Zeuge Kimmerier dort angetroffen habe. Dabei dürfte ein von Homer und Herodot erwähntes Volk sicher Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, zumindest wenn es irgendwo unter seinem alten Stammesnamen überlebt hätte. Die seltenen Erwähnungen von "Kimmeriern" als Anwohner der Maiotis in nachherodotischer oder gar in der Zeit nach Christi Geburt sollten sicherlich nur die Gelehrsamkeit der entsprechenden Autoren beweisen 322.

Es ist daher unerklärlich, wie M. Rostowzew Pantikapaion als "eine der Hauptstädte des ehemaligen kimmerischen Königreichs" bezeichnen konnte (so Rostowzew 1922, 64). Ebenfalls nicht nachvollziehen läßt sich die Behauptung Chr.M. Danovs, die im übrigen von J. Boardman unkritisch übernommen wurde, daß die südlich von Pantikapaion gelegene griechische Gründung Tyritake eine ältere, "kimmerische" Stadt als Vorgänger besessen habe (Danov 1962, 1126; Boardman 1981, 297.298), weil weder konkrete archäologische noch literarische Zeugnisse zur Untermauerung dieser Aussage angeführt werden. Der Meinung, daß die griechische Stadt Kimmerikon um 500 v.Chr. neben einer ebenfalls "kimmerischen" Stadt gegründet worden sei (Boardman 1981, 297), mangelt es ebenso an ausreichender, archäologisch gesicherter Begründung.

Allerdings berichtet Strabon über eine Stadt der Kimmerier am Bosporos (Strab. XI 2,5) und gleichfalls von einem nach diesem Volk benannten Berg (Strab. VII 4,3). Herodot überliefert, daß "noch jetzt", also im fünften vorchristlichen Jahrhundert, eine "Kimmeria" genannte Stadt und ein ebensolcher Hafenplatz in Skythien existiert habe (Hdt. IV 12,1; vgl. Mela I 112). Der ältere Plinius teilt aber von der Cimmerium genannten Stadt am Bosporos mit, daß sie früher einen anderen Namen getragen habe 323 (Plin. nat. VI 18). Zwar soll den Angaben der dem Skymnos zugeschriebenen Erdbeschreibung entsprechend die "Kimmeris polis" ihren Namen den Kimmeriern verdanken, aber dieses aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert stammende Werk berichtet auch, daß diese Stadt erst von Tyrannen des Bosporanischen Reiches gegründet wurde (Skymn. 896-899). Für die übrigen genannten "kimmerischen" Städte, deren Lokalisierung zum Teil recht unsicher ist, lassen sich überhaupt keine literarischen Zeugnisse zur zeitlichen Einordnung ihrer Gründung anführen. Somit fehlen in den schriftlichen Quellen auch überzeugende Argumente für "kimmerische" Vorgänger der oben genannten griechischen Städte.

Ausgrabungen im Bereich der antiken Städte Tyritake und Kimmerikon ergaben jedoch jeweils eine den griechischen Stadtgründungen vorangehende, bronzezeitliche Besiedlung (vgl. dazu die Literaturangaben bei Gajdukevic 1971, 185.197). Allerdings deuten die materiellen Überreste dieser bronzezeitlichen Bevölkerung eher auf seßhafte Ackerbauern hin, als daß sie die Möglichkeit bieten würden, als Hinweise auf die als nomadisierendes Volk geschilderten Kimmerier benutzt zu werden (vgl. Gajdukevic 1971, 39). Somit entpuppt sich die Deutung als "kimmerisch" für diese Siedlungen als eine unkritische Übertragung des kimmerischen Namens auf alle archäologischen Funde, die älter als eisenzeitlich eingeordnet werden.

In diesem Zusammenhang vermißt man zumindest in der modernen Forschung häufig Bemerkungen, die auf den Gegensatz eingehen, der aus der allgemeinen Beschreibung der Kimmerier als Reiternomaden und der Behauptung, daß diese Kimmerier bereits vor dem siebten Jahrhundert v.Chr. eine Stadtkultur entwickelt hätten, entsteht (anders Gajdukevic 1971, 39). Zumindest von den Skythen jedoch berichtet Herodot, daß sie weder Städte noch Burgen bauen 324, sondern ihre Häuser immer mit sich führen würden (Hdt. IV 46,2; vgl. auch Hdt. VII 10,2). Strabon nennt die Völker, die an der Maiotis wohnen, ebenfalls Wagenbewohner (Strab. II 5,26; vgl. dazu Mela II 2). Für antike Schriftsteller wie Herodot allerdings war die staatliche Organisation in Stadtstaaten so normal, daß sie diese Siedlungsform sicherlich ohne weiteres auch auf fremde Völker übertrugen.

Weil für große Flüsse eine Umtaufe auch bei ethnischen Verschiebungen eine seltene Ausnahme zu sein pflegt (Schramm 1973, 25), bietet sich eine Untersuchung zu den Gewässernamen an, um die Fragen zur Bevölkerung eines Gebietes zu klären. Zwar vermutete G. Schramm, daß die Namen der großen Zuflüsse des nördlichen Schwarzmeeres zu einem Namenstratum gehören müssen, das erheblich älter ist als der Skythensturm (Schramm 1973, 25), aber im Bereich westlich des Don konnte er keine griechischen Entlehnungen aus vorskythischer 325 Zeit nachweisen und bezeichnete deshalb die antiken Stromnamen im nordpontischen Bereich mindestens für die strittige Frage als unergiebig, wie weit sich Kimmerier über den Don hinaus nach Westen ausdehnten (Schramm 1973, 194). Die sicher nichtskythische Herkunft der antiken Benennungen der Flüsse Don und Kuban – "Tanais" und "Hypanis" - (Schramm 1973, 166) führte aber zu der Behauptung, in diesen Namen kimmerische Sprachreste identifiziert zu haben (Schramm 1973, 191). Dieses "Ergebnis" aber als Bestätigung der aus den literarischen Zeugnissen abgeleiteten Herrschaft der Kimmerier im Nordosten des Schwarzen Meeres zu werten, bedeutet freilich einen unzulässigen Zirkelschluß, da zuvor eben diese Anwesenheit von Kimmeriern vorausgesetzt wurde, um die postulierte kimmerische Herkunft der Flußnamen erst zu begründen.

Es wird klar, daß wir keine eindeutigen philologischen Fakten besitzen, die Kimmerier zu irgendeiner Zeit als Bevölkerung der Steppen nördlich des Schwarzen Meeres belegen. Zumindest die griechischen Benennungen für Berge, Meerengen und Plätze, die aus dem Namen der Kimmerier gebildet wurden, beweisen überhaupt nichts 326. W. Aly bezeichnete die Namen Phasis, Kaukasus und Kimmerier sogar als ursprünglich rein mythische Namen, denen demzufolge keinerlei Realität zukommen würde (Aly 1969, 118 Anm. 29). Am Beispiel des Kaukasus läßt sich sogar deutlich zeigen, daß die Lokalisierung bedeutender "geographischer Monumente" selbst in relativ später Zeit keineswegs eindeutig war. So genügte es manchmal, im Osten ein großes Gebirge zu finden, um in ihm den Kaukasus der Prometheussage 327 zu sehen, und noch zur Zeit Alexanders wurde mit diesem Namen nicht bloß das heute damit bezeichnete Gebirge belegt (vgl. Arr. anab. III 28,4.5; V 3,1-4). Der Nachricht aber, daß Alexander im Laufe seiner Feldzüge auch den Kaukasus überschritten habe, wurde durchaus Glauben geschenkt (vgl. Plin. nat. IV 39).

Die namenkundlichen Vergleiche finden ihre Fortsetzung in den Versuchen, die heutige Bezeichnung der Halbinsel Krim als Überbleibsel des kimmerischen Namens erklären zu wollen (Balcer 1972, 126; Gold 1984, 15). Auffallen muß aber, daß es in der Antike für diese Halbinsel nie eine vergleichbare Benennung gegeben hat und die Krim damals landläufig als Taurische bzw. Skythische Chersonesos (Strab. VII 4,1), "rauhe" Chersonesos (Hdt. IV 99,3) oder einfach nur als Chersonesos (Amm. Marc. XXII 8,32) bezeichnet wurde. Der Name "Krim" ist vielmehr deutlich jünger als diese antiken Bezeichnungen und läßt sich - ohne dazu den Namen der Kimmerier bemühen zu müssen - auf das turk-tatarische "qyrym" = "Festung" zurückführen (Harmatta 1976, 19).

Wenn antike Autoren von "kimmerischen" Städten berichten, so muß dies nicht auf eine kimmerische Bevölkerung hinweisen. Pomponius Mela bezeichnet beispielsweise die griechischen Stadtstaaten Murmecion, Pantikapaion, Theodosia und Hermisium als Cimmerica oppida, führt aber als Bewohner des Umlandes die Satarchen und die Tauriker an (Mela II 3.4; vgl. Plin. nat. IV 85-87). Somit soll "kimmerisch" in diesem Zusammenhang lediglich "am kimmerischen Bosporos gelegen" besagen 328.


318 Die Idee, thrakische Namen in bosporanischen Inschriften als Beweis für eine thrakische bzw. kimmerische "Urbevölkerung" anzuführen, ist angesichts der Tatsache, daß diese Namen erst in nachchristlicher Zeit gehäuft auftreten und es für die archaische und klassische Zeit überhaupt keine Belege gibt, gänzlich abwegig (vgl. Tohtasjev 1986, 118.119; 1993, 178.179).
319 Vereinzelt wird eine auch in skythischer Zeit noch andauernde kimmerische Besiedlung der Landschaft um den Kimmerischen Bosporos behauptet: "Ex haec enim immensa Ponti aqua trahitur recta per Cimmerium Bosporum, ad quem multi Cimmeri habitant sub frigidum Tauri pedem" (Dionys. Periheg. 166-168).
320 Der Name Bosporos erfährt seine mythologische Begründung dadurch, daß die von Hera in eine Kuh verwandelte Io auf ihrer Wanderung durch die Welt beide Meerengen überqueren mußte (vgl. Aischyl. Prom. 707-805).
321 Die Meinung, daß die von der Maiotis in das Schwarze Meer leitende Meerenge als Fluß anzusehen sei, findet sich auch in dem aus dem fünften Jahrhundert n.Chr. stammenden "Gotenkrieg" des Prokop, der die Straße von Kerc als Fortsetzung des Tanais bezeichnet (Prok. Goth. VIII 4,10).
322 Deutlich läßt sich dies mit der Behauptung Prokops belegen, daß die Hunnen bereits "vor alter Zeit" unter dem Namen "Kimmerier" die nordpontischen Steppen bewohnt hätten (Prok. Goth. VIII 5,1; vgl. VIII 4,10; VIII 5,6).
323 Zumeist wird dieser frühere Name mit Chimerion wiedergegeben. In der Übersetzung von L. Strack ist dieser Name aber mit "Kerberion" wiedergegeben (Strack 1968, 243).
324 Die Anlage von Neapolis Scythica auf der Krim als Hauptstadt eines skythischen Reiches erfolgte erst unter dem bereits langwährenden Einfluß der griechischen Stadtstaaten (Neubauer 1960, 138; Gajdukevic 1971, 303-306).
325 Wenn man davon ausgeht, daß die Skythen im achten Jahrhundert v.Chr. in den nordpontischen Raum eingewandert seien, müßten nichtiranische Namen älter sein und könnten möglicherweise kimmerischen Ursprungs sein.
326 Daß sprachgeschichtliche Thesen häufig mit archäologischen Scheinbeweisen untermauert wurden, beklagte auch R. Hachmann in seiner Studie über die Ursprünge der Goten, wobei er darauf hinwies, daß es "in der Archäologie ... im Prinzip nicht anders [war]; die historische oder philologische Quelle bzw. deren Auswertung brachte manch einen bequemen 'Beweis' für willkommene Deutungen archäologischer Befunde" (Hachmann 1970, 10).
327 Die in Aischylos' "Gefesselter Prometheus" genannten geographischen und ethnographischen Angaben lassen sich in ihrer relativen Lage zum dort ebenfalls genannten Kaukasus - wenn das heute so benannte Gebirge damit gemeint ist - nicht nachvollziehen (vgl. Aischyl. Prom. 705-735).
328 Ebenso bezeichnet der ältere Plinius die griechische Stadt Dioskurias an der pontischen Ostküste als urbs Colchorum Dioscuriade (Plin. nat. VI 15), um damit ihre Lage in Kolchis zu kennzeichnen und ohne damit eine kolchische Einwohnerschaft zu behaupten. Der Terminus "taurisch" wird aber auch in der modernen Forschung noch zuweilen synonym zu "kimmerisch" verwandt (vgl. Neubauer 1960, 142).


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