6.1.2 Die Kimmerier unter Lygdamis

Nach den Angaben des Kallisthenes erfolgten zwei kimmerische Angriffe auf Lydien, die beide zur Eroberung der lydischen Hauptstadt Sardes führten: Zuerst von den Kimmeriern allein, dann von vereinten Trerern und Lykiern (Strab. XIII 4,8). Als Anführer der kimmerischen Horde, welcher die erste der beiden Eroberungen von Sardes gelang, nennt uns Strabon den Lygdamis, dem er auch Streifzüge nach Ionien zuschreibt 345. Von diesem Lygdamis berichtet Strabon weiterhin, daß er in Kilikien ums Leben gekommen sei (Strab. I 3,21), ohne aber zu diesem Ende des Lygdamis nähere Umstände anzugeben. Die mit großer Wahrscheinlichkeit auf Poseidonios zurückgehende Behauptung Plutarchs (vgl. Norden 1959, 67.466), daß dieser Lygdamis Führer einer kleinen Horde Kimmerier zu der Zeit war, als diese unter dem Druck der Skythen ihre Heimat an der Maiotis verlassen mußten und nach Kleinasien vordrangen (Plut. Mar. XI 9), stellt eine direkte Verbindung zwischen der Erzählung des Strabon, die einen kimmerischen Anführer namens Lygdamis nennt, und der des Herodot her, die von der Vertreibung der Kimmerier aus ihren nordpontischen Stammsitzen durch die Skythen berichtet.

Die von Strabon hergestellte Verbindung der Eroberung von Sardes durch Lygdamis mit dem kimmerischen Vorstoß an die anatolische Westküste könnte Bestätigung im Artemishymnus des Kallimachos finden. Der Hymnus informiert über einen erfolglosen Angriff von Kimmeriern unter Lygdamis auf Ephesos (Kallim. Artem. 251-258; vgl. Kallim. ait. 3,23). In diesen Versen klingt aber sicher auch noch die Erregung über die Keltengefahr nach, die um 278 v.Chr. zu Lebzeiten des Kallimachos einige Jahre in Kleinasien bestanden hatte (Herter 1931, 441) und die als Wiederholung der Kimmerierstürme empfunden werden konnte. Die Erwähnung eines kimmerischen Heerlagers "auf des Kaysters Fluren" (Kallim. Artem. 257.258) könnte als Hinweis auf eine vorherige Belagerung von Sardes gedeutet werden (vgl. hierzu Strab. XIII 4,7; Hdt. V 100). Das würde darauf hindeuten, daß die kimmerischen Angriffe auf ionische Städte wie Ephesos oder Magnesia erst nach der ersten Einnahme von Sardes erfolgten. Die Mitteilung, daß die Landschaft "an der Furt des Rindes, der Tochter des Inachos" die Heimat der Kimmerier sei (Kallim. Artem. 253.254), spielt dabei auf die Geschichte der in eine Kuh verwandelten Io an, die während ihrer Irrwanderungen auch den Kimmerischen Bosporos überquert haben soll (Aischyl. Prom. 729-735; Amm. Marc. XXII 8,13). Damit scheint Kallimachos zwar einerseits die Angaben des Herodot über das Ursprungsgebiet der Kimmerier zu bestätigen, während er jedoch andererseits durch die Andeutung einer beabsichtigten Rückkehr des Lygdamis und seines Kimmerierheeres in diese Heimat, die Kallimachos gleichwohl als "Skythien" und nicht etwa als "Kimmerien" 346 bezeichnet (Kallim. Artem. 255-257), die von Herodot beschriebene gewaltsame Verdrängung der Kimmerier durch Skythen zu ignorieren scheint.

Herodot berichtet nur von einer Eroberung von Sardes durch Kimmerier während der Herrschaft des Ardys (Hdt. I 15). Die lydische Geschichte läßt sich jedoch bereits unter Gyges mit kimmerischen Einfällen verbinden, und Strabon erklärt zudem eindeutig, daß der unter Lygdamis unternommene Angriff der frühere war (Strab. XIII 4,8; XIV 1,40). Somit könnte der in assyrischen Quellen genannte Tod des Gyges den Zeitpunkt dieser von Herodot nicht erwähnten ersten Einnahme von Sardes durch Kimmerier liefern (Lehmann-Haupt 1921, 415; Nagel 1982, 32). Das genaue Datum dieses Ereignisses kann allerdings allein durch die Erörterung eben dieser assyrischen Dokumente ermittelt werden.


345 Auffällig ist, daß Herodot den kimmerischen Vorstoß bis zur eigenen ionischen Heimat in nur einem Satz vermerkt (Hdt. I 6,3).
346 Auch bei Aischylos wandert die in eine Kuh verwandelte Io durch das Land der Skythen und nicht durch das der Kimmerier (vgl. Aischyl. Prom. 709-711).


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