6.2.1.2 Kimmerier und Skythen

Während es für H. Kaletsch zumindest klar war, daß es sich bei den Trerern um ein thrakisches Volk handelte, wollte er für die Kimmerier keine Entscheidung zwischen einer thrakischen oder einer iranischen Volkszugehörigkeit treffen (Kaletsch 1958, 26 Anm. 56). Arrianus aber scheint die Kimmerier deutlich als skythisches Volk bezeichnet zu haben (vgl. Eusth. ad Hom. Od. XI 14, 246,21.22). Die Auffassung, daß die Kimmerier zu den Skythen gehörten, wird dabei vor allem darauf beruht haben, daß die Skythen ebenso als "Stutenmelker" und "Milchesser" bezeichnet wurden wie manchmal die Kimmerier.

Der früheste Beleg für die Bezeichnung "Stutenmelker" findet sich in der Ilias (Marg 1984, 465), aber die geographische Einordnung dieses namentlich ansonsten nicht näher spezifizierten "Volkes" ist schwierig. Die Erweiterung des griechischen Horizonts läßt sich in den Hesiod zugeschriebenen Gedichten zeitlich besser nachvollziehen als in den homerischen Werken, zumal Hesiod schon die Namen einiger ins Schwarze Meer fließender Ströme kennt (Hes. theog. 339-345). Ein Fragment aus dem sogenannten "Frauenkatalog" des Hesiod behandelt die Verfolgung der vogelartigen Harpyien durch Kalais und Zetes, die beiden Söhne des Boreas, die dadurch den Phineus von dieser Plage befreien (Hes. Frg. 150 MW). Hierbei beginnt die Jagd im Bereich des Bosporos und erstreckt sich über viele Länder, vorbei an den "Aithiopiern und Libyern und stutenmelkenden Skythen", wie das durch Eratosthenes überlieferte Fragment aus einem Werk des Hesiod beschreibt (bei Strab. VII 3,7). Dadurch, daß man sich die beiden Boreaden Kalais und Zetes - ebenso wie die verfolgten Harpyien - als mit Flügeln ausgestattet dachte (vgl. Pind. Pyth. IV 183), konnte diese Jagd bis zu den Grenzen der bekannten Welt führen; und dort sind auch die erwähnten Völker angesiedelt.

Die kurze Erwähnung der "erlauchten Stutenmelker" durch Homer findet bei Hesiod ihre Ergänzung durch einige Einzelheiten, wie daß sie Wagen als Häuser hätten (Strab. VII 3,9). Auch Herodot berichtet von den Skythen, daß sie weder Städte noch Burgen bauen, sondern ihre Wohnungen mit sich führen würden, indem sie auf Wagen lebten (Hdt. IV 46,2), und Strabon nennt die um den Tanais, an der Maiotis und am Borysthenes wohnenden Völker ebenfalls "Wagenbewohner" (Strab. II 5,26; vgl. Mela II 2). Diese Vorstellungen von nomadisierenden Skythen, die ihre Häuser auf Wagen bauten, fanden ebenfalls Eingang in die griechische Tragödie (Aischyl. Prom. 709-711). Die Bezeichnung "Wagenbewohner" ist allerdings nicht allein den Skythen vorbehalten, wie ihre Verwendung durch Strabon anläßlich seiner Beschreibung germanischer Völker belegt (Strab. VII 1,3; VII 2,4) 357.

Herodot berichtet, daß die Skythen ihre Sklaven zu blenden pflegten, um der Milch willen, die das Hauptnahrungsmittel der Skythen bildete (Hdt. IV 2,1). Herodot teilt aber auch mit, daß die von seinen griechischen Landsleuten den Skythen nachgesagten Angewohnheiten nicht Sitte der Skythen, sondern vielmehr der Massageten sei. Die Massageten würden ihr Land nicht bebauen, sondern lebten von ihrem Herdenvieh und von Fischen, und sie würden Milch trinken (Hdt. I 216,3). Somit können "Hippomolgoi" und "Galaktophagoi" keine exklusiven Bezeichnungen bestimmter Völker gewesen sein, was zumal durch Redewendungen wie "stutenmelkende Skythen" bestätigt wird. Strabon berichtet auch von germanischen Völkern, daß sie ihre Nahrungsmittel von ihren Herden nähmen, genauso wie die Wanderhirten (Strab. VII 1,3) 358. Außerdem muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß diese "Völkernamen" deutlich griechische Bezeichnungen sind, welche auf für Hellenen charakteristische Lebensgewohnheiten oder äußerliche Besonderheiten dieser Völker basierten 359.

Herodot nennt die Kimmerier an keiner Stelle seines Werkes "Stutenmelker" oder "Milchesser", und ebensowenig kennzeichnet er sie durch weitere, normalerweise den nomadischen Völkern zugewiesene Eigenschaften, wie das Wohnen in Wagen oder Zelten. Eher läßt die Beschreibung Herodots den Eindruck entstehen, mit den Kimmeriern ein bodenständiges Volk vor sich zu haben, dem man sogar den Bau von Städten zutrauen konnte (Hdt. IV 12,1; vgl. Strab. XI 2,5). Glaubt man aber an die von Herodot berichtete Abwanderung aller Kimmerier aus den nordpontischen Steppen nach Kleinasien, so belegt dies eine große Mobilität der Kimmerier, die sich nur aus einer nomadischen Lebensweise ableiten läßt.

In nachherodotischer Zeit werden die Kimmerier von antiken Schriftstellern öfter mit den Skythen gleichgesetzt, die ihrerseits vielfach als die Nomaden schlechthin bezeichnet werden (Strab. VII 3,7; VII 4,6). Kallimachos besingt im Artemishymnus den Lygdamis auch als Heerführer der "stutenmelkenden Kimmerier". Aber Kallimachos stellt die Kimmerier nicht nur durch das gemeinsame Beiwort "stutenmelkend" und die Erwähnung des "kimmerischen Wagenlagers" im kaystrischen Gefilde als Nomadenvolk neben die Skythen, sondern er erklärt sie geradewegs zum skythischen Volk, indem er ausdrücklich "Skythien" als Heimat des Lygdamis nennt, in die dieser zurückzukehren plante (vgl. Kallim. Artem. 251-258).

Die Gemeinsamkeit des Nomadentums von Kimmeriern und Skythen bestimmte die Vorstellung der griechischen Schriftsteller. So berichtet Stephanos von Byzanz über Suassos, ein Dorf in Phrygien, daß sich dort Kimmerier lange Zeit von tausenden, in Vorratsgruben gespeicherten Feuern ernährt hätten (Steph. Byz. 588,25-589,2). Sicher bietet die Interpretation, daß sich die Kimmerier von in den Gruben gelagerten Getreidevorräten ernährt hätten, eine einleuchtende Erklärung für diese Erzählung (so Tomaschek 1893, 55). Aber gerade die Vorstellung von sich von Feuer bzw. Rauch ernährenden Nomaden war in hellenistischer Zeit weit verbreitet. Strabon zitiert den Poseidonios, wenn er den Mysern den Beinamen "Kapnobatai" zuweist (Strab. VII 3,3), der mit "Rauchgänger" oder, wenn man "Kapnopatai" lesen will, mit "Rauchschluckende" übersetzt werden kann, wobei in der neuattischen Komödie die Geten ebenso genannt wurden. Eventuell wurde die Vorstellung von den Gewohnheiten der Nomaden durch die von Herodot beschriebene Sitte der Skythen gefördert, sich in Zelten am Rauch von auf glühende Steine gelegten Hanfkörnern zu berauschen (Hdt. IV 75,1.2; vgl. I 202,2). Zu den Angewohnheiten, die den Nomadenvölkern zugeschrieben wurden, gehörte wohl ebenso der Verzehr von Gras 360. So berichtet Arrianus, daß die Kimmerier bei Herakleia Pontica eine Niederlage erlitten hätten, weil sie zuvor von einer giftigen Pflanze 361 gegessen hätten (Eusth. ad Dionys. 791, 355,3-6).

Das Melken von Stuten und das Trinken von Milch bzw. das Essen von Käse wird von den Griechen als eine der hervorragenden Eigenschaften der nördlichen Nomaden aufgefaßt, und eine Vielzahl von barbarischen Stämmen wird mit entsprechenden Beinamen bedacht 362. Diese Beinamen eigen sich jedoch nicht zu einer Unterscheidung der in den schriftlichen Quellen genannten Nomadengruppen, weil sie nämlich keine Ethnonyme, sondern lediglich ethnographische Bezeichnungen darstellen.


357 Auch die aus dem vierten Jahrhundert n.Chr. stammende Darstellung der Alanen des Ammianus Marcellinus wiederholt sämtliche Klischees, die nomadischen Völkern zugeschrieben wurden: Trinken von Milch, Wagen als Behausungen, ständige Übung im Reiten und im Kampf (Amm. Marc. XXXI 2,17-20). Deshalb bezeichnet Ammianus Marcellinus die Alanen auch als "einstige Massageten" (Amm. Marc. XXXI 2,12).
358 Auch Caesar schreibt den Germanen den für barbarische Nordvölker als typisch angesehenen Milchgenuß zu: "Neque multum frumento, sed maximam partem lacte atque pecore vivunt" (Caes. Gall. IV 1,8), wobei er ähnliches auch von den Bewohnern Britanniens berichtet: "Interiores plerique frumenta non serunt, sed lacte et carne vivunt" (Caes. Gall. V 14,2). Plinius der Ältere nennt das Trinken von Milch ebenfalls als eine bei den barbarischen Völkern übliche Art der Ernährung: "E lacte fit et butyrum, barbararum gentium lautissimus cibus et qui divites a plebe discernat" (Plin. nat. XXVIII 133; vgl. XI 239).
359 So leitet sich der Name der "Melanchlainoi", der "Schwarzmäntel", von deren schwarzer Kleidung ab (Hdt. IV 107; Mela II 14). Somit verdanken sie ihren Namen allein der Farbe ihrer Kleidung, wobei ihre Sitten skythisch waren (Hdt. IV 107).
360 Herodot verbindet bei einem indischen Stamm sogar Vegetarismus, Nichtbetreiben von Ackerbau, fehlende Häuser und den Verzehr von Gras (Hdt. III 100). Eventuell rührt die griechische Vorstellung von den grasessenden Nomaden von dem enormen Bedarf der Nomaden an Weideflächen her (vgl. Hippokr. aër. XVIII 22-24).
361 Zwar ist auch Strabon das bei Herakleia wachsende "Akoniton" bekannt, aber er stellt keine Verbindung zu den Kimmeriern her (Strab. XII 3,7). Die Giftpflanze leitete man vom Geifer des von Herakles aus dem Hades an die Erdoberfläche gezerrten Höllenhundes Kerberos ab, weshalb Plinius das Vorkommen des Eisenhuts bei Herakleia Pontica mit dem dort vermuteten Eingang zur Unterwelt erklärt (Plin. nat. XXVII 4; vgl. Mela I 103). Ovid bestätigt in seinen Metamorphosen zwar diese Erzählung, versetzt die Tat des Herakles aber durch die Angabe, daß Medea das Akoniton ab oris Scythicis mitgebracht habe, an die Schwarzmeer-Nordküste (Ov. met. VII 406-413).
362 So werden von Hesiod die Hyperboreer, deren im Zusammenhang mit der Verfolgung der Harpyien durch die Boreaden gedacht wird, als "pferdekundig" bezeichnet (Hes. Frg. 150 MW). In der Ilias werden die Phryger als "gaultummelnde" Männer bezeichnet (Hom. Il. III 185), und Aischylos e


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