6.2.1.3 Kimmerier und Kimbern

Am Ende des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts waren mit Kimbern und Teutonen zum ersten Mal germanische Völker 363 in den römischen Herrschaftsbereich eingedrungen. Tacitus berichtet in seinem am Ende des ersten Jahrhunderts n.Chr. entstandenen Werk De origine et situ Germanorum, daß man im sechshundertvierzigsten Jahr der Stadt Rom erstmals von den Waffenleistungen der Kimbern hörte (Tac. Germ. 37). Unter dem unmittelbaren Eindruck der über römische Legionen errungenen Siege dieser Völker liefert der um 135 v.Chr. in Apammeia geborene Poseidonios seine Beschreibungen von den Kimbern (vgl. dazu Malitz 1983, 198-228). Die Überlegungen zu den Ursachen der Wanderungen von Kimbern und Teutonen führen den Poseidonios dazu, diese nicht als einmaliges Ereignis zu verstehen, sondern als Teil einer langen Reihe von Raubzügen. Strabon überliefert die Ansicht des Poseidonios, daß die Kimbern auf einem ihrer Streifzüge bis in die Gegend der Maiotis gelangt seien und daß deshalb nach ihnen der Kimmerische Bosporos benannt worden sei - gewissermaßen der Kimbrische Bosporos -, weil die Kimbern von den Griechen zu jener Zeit nämlich Kimmerier genannt worden seien (Poseid. bei Strab. VII 2,2). In seiner Biographie des Marius, des siegreichen römischen Feldherrn über Kimbern und Teutonen, behauptet Plutarch, daß die Kimmerier nur ein kleiner Teil des Volkes der "Keltoskythen" gewesen seien. Diese "Keltoskythen" hätten ihren Ursprung in einer Vermischung von Kelten und Skythen, die sich in der Kontaktzone zwischen den Völkern im Bereich der nordpontischen Steppen ergeben habe (Plut. Mar. XI 6-8; vgl. Strab. XI 6,2). Diese Behauptung findet sich in leicht abgewandelter Form auch bei Diodoros, der als die allerwildesten unter den Kelten diejenigen bezeichnet, die in der unmittelbaren Nachbarschaft der Skythen wohnten. Zu diesen Kelten sei auch das Volk zu zählen, welches damals Kimmerier genannt wurde und ganz Asien durchzogen habe; erst anschließend habe sich die Benennung von Kimmerier zu Kimbern verändert (Diod. V 32,4).

Die auf der Ähnlichkeit dreier anlautender Buchstaben der Namen beruhenden Überlegungen antiker Schriftsteller fanden ernsthafte Aufnahme in den Forschungen neuzeitlicher Historiker und Sprachwissenschaftler. V. Pisani vermutete in der Benennung "Kimmerioi" die griechische Entsprechung zum vorgermanischen Kimeroi, dem Namen des Volkes, das von den Römern unter dem Namen Cimbri, den Griechen aber unter dem Namen "Kimbroi" mit unverschobenem k- bekannt war (Pisani 1980, 37). R. Hennig behauptete, daß an der Gleichsetzung der Kimbern mit den Kimmeriern auch "vom geographischen Standpunkt" kaum etwas auszusetzen sei (Hennig 1926b, 165): Denn Homer beschreibt die Kimmerier als in ständiger Dunkelheit lebende Menschen (Hom. Od. XI 12-28).; Kenntnisse über das für den sonnenverwöhnten Mittelmeeranwohner sehr rauhe Nordseeklima auf der Kimbrischen Halbinsel, im heutigen Jütland, soll die homerische Beschreibung der Umgebung der Kimmerier beeinflußt haben 364.

Die Deutung des ständigen Nebels und der ewigen Nacht - da die Sonne nie scheine - als Anspielung auf reale klimatische Verhältnisse ließ aber auch ernsthaft an die wolkenreichen und sonnenarmen britischen Inseln denken (Hennig 1926a, 292; 1932, 5), zumal der Name "Kymri" für die im südwestlichen England ansässigen Kelten an den der Kimmerier anzuklingen scheint (Hennig 1932, 10).

Als Beweis dafür, daß Homer durchaus Kenntnisse über die Regionen Europas besaß, die wesentlich nördlicher anzusiedeln sind als die Nordküste des Schwarzen Meeres, wird häufig eine weitere Partie der Odyssee angeführt. Vom Land der Lästrygonen wären "nicht weit entfernt ... die Triften der Nacht und des Tages", so daß Hirten, die ihre Herden nach Hause trieben, Hirten begegnet seien, die ihre gerade hinaustrieben (Hom. Od. X 82-86). Diese Beschreibung scheint auf ständiges Tageslicht hinzudeuten und könnte somit das Wissen um die nordische Mitternachtssonne widerzuspiegeln (so Hennig 1926b, 164). Allerdings ist es möglich, die Schilderung des Lästrygonenlandes auch ohne eine Heranziehung meteorologischer oder astronomischer Verhältnisse zu erklären 365.

Während die auf Poseidonios zurückgehende Interpretation der Ähnlichkeit zwischen den Namen der Kimmerier und der Kimbern unter dem Eindruck der Wanderungen der Kimbern und Teutonen von einer früheren Bewegung der Kimbern nach Osten bis in die nordpontischen Steppen ausgeht, hielt G. Vernadsky es für wahrscheinlicher, daß die Kimbern einen "frühen Westvorstoß der Kimmerier" darstellten (Vernadsky 1951, 342). Aber auch wenn man von einer vorskythischen Besiedlung der nordpontischen Steppen durch Kimmerier ausgeht, so müßte deren Verdrängung spätestens im siebten Jahrhundert v.Chr. stattgefunden haben, weil ab diesem Zeitpunkt in jenem Raum Skythen sicher bezeugt sind. Ein "früher kimmerischer Westvorstoß" wäre folglich zumindest in das siebte oder sogar in das achte Jahrhundert v.Chr. zu setzen. Zwischen den behaupteten "frühen" Wanderungen von Kimbern bzw. Kimmeriern und den bezeugten Zügen der Kimbern und Teutonen lägen somit mindestens 400 Jahre, für die sich keine gesicherten Nachrichten über diese Völker nachweisen lassen 366.


363 Die Bestimmung von Kimbern und Teutonen als Germanen erfolgte erst während des römischen Vorstoßes nach Gallien in der Mitte des ersten Jahrhunderts v.Chr. (vgl. Caes. Gall. I 33,4; I 40,5), wurde jedoch anschließend oft wiederholt (so Vell. II 12,2; Strab. IV 4,3). Dem im vierten nachchristlichen Jahrhundert lebenden Eutropius war diese klare Trennung jedoch nicht mehr bewußt: "Cimbris et Teutonibus et Tugurinis et Ambronibus, quae erant Germanorum et Gallorum gentes" (Eutr. V 1).
364 Strabon überträgt diese Schilderung auf die vermeintlich finsteren Verhältnisse am Kimmerischen Bosporos (Strab. I 2,9), indem er wohl der herodotischen Darstellung der klimatischen Verhältnisse in Skythien folgt (vgl. Hdt. IV 28).
365 Vgl. dazu das Kap. "7.2.2 Orphische Elemente in den homerischen Epen".
366 Der Bericht des Tacitus weist darauf hin, daß zumindest die Römer erst im Jahr 113 v. Chr. zum ersten Mal von den Kimbern Kenntnis erlangten: "sescentesimum et quadragesimum annum urbs nostra agebat, cum primum Cimbrorum audita sunt arma" (Tac. Germ. 37).


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