6.2.2 Kimmerier am Avernus

Strabon berichtet, daß nach einer Sage der See Avernus an der Westküste Italiens, der heutige Lago di Averno, mit der Nekyia des Odysseus in Verbindung gebracht wurde (Strab. V 4,5). Als Gewährsmann nennt er hierbei den Ephoros von Kyme, dessen Hauptwerk "Historia" in der Mitte des vierten Jahrhunderts v.Chr. erschien. Die Ansicht, daß der 65 Meter tiefe Kratersee der Eingang zur Unterwelt sei, war zumindest in der auf Ephoros folgenden Zeit weit verbreitet (Verg. Aen. III 441-444; V 731-733; Diod. IV 22,1.2), und der See selbst galt als Aufstau des Unterweltflusses Acheron (Verg. Aen. VI 107). Der See und seine Umgebung wurden sehr häufig mit dem sagenhaften Volk der Kimmerier in Verbindung gebracht (z.B. Lyk. Alex. 694-696; Tib. IV 1,64-66), weil sich an dieser Stelle das Totenorakel befunden habe, das Odysseus zur Befragung des Teiresias aufgesucht haben soll 367. Auch Plinius der Ältere teilt in seiner Beschreibung der italischen Küste bei Cumae mit: "Hier war einst eine Stadt der Kimmerier" (Plin. nat. III 61).

Die Sage von den am Avernus lebenden Kimmeriern fand durchaus Eingang in die Überlegungen moderner Forschung. Weil Ephoros berichtet, daß Kimmerier die Diener des Orakels gewesen seien 368 und daß die Kimmerier in "unterirdischen" Häusern 369 gewohnt hätten, die "Argyllai" genannt wurden (Ephor. bei Strab. V 4,5), glaubte G. Schramm in diesem Wort "argyllai" die einzige uns überlieferte kimmerische Vokabel identifizieren zu können (Schramm 1973, 199 Anm. 522). Er ignorierte dabei, daß auch Strabon es vermeidet, darauf einzugehen, wie sich die Rolle der Kimmerier als Diener eines Orakels in Süditalien mit ihrer sonst üblichen Lokalisierung am Schwarzen Meer vereinbaren läßt. Denn auch Strabon lokalisiert die Kimmerier - darin dem Herodot folgend - am nach ihnen benannten Bosporos (Strab. I 1,10; I 2,10). Aber Strabons Bemühen, Beweise für die Richtigkeit der geographischen Angaben Homers zu liefern 370, zwingt auch ihn, wesentliche Teile der Fahrt des Odysseus ins westliche Mittelmeer zu verlegen. Einer dieser Beweise soll die Bestimmung des Standortes des aus der Nekyia des Homer bekannten Totenorakels in Südwestitalien sein (Strab. I 2,18). Dabei ist es zunächst unerheblich, ob Ephoros - auf den Strabon sich in dem Falle stützt - in seinem Bericht eine Sage seiner Vaterstadt Kyme bzw. deren Kolonie Cumae wiedergibt (vgl. hierzu Rohde 1881, 555), oder ob es Ephoros selbst gewesen war, der in den Höhlen am Avernus den Eingang zur Unterwelt identifizierte. Eine kimmerische Herkunft der Vokabel "Argyllai" läßt sich weder im einen noch im anderen Falle ableiten, zumal auch Strabon an keiner Stelle eine Verbindung zwischen der auf Homer und Ephoros einerseits und der auf Herodot andererseits zurückgehenden Lokalisierungen der Kimmerier herstellt.

R.F. Paget argumentierte mit einer um 800 v.Chr. angenommenen Schaffenszeit des Homer, um festzustellen, daß es dieses Orakel und seine kimmerischen Priester schon eine beträchtliche Zeit vor 800 v.Chr. gegeben haben müsse, weil sein Ansehen sich zu diesem Zeitpunkt bereits bis zu Homer in Kleinasien verbreitet habe (Paget 1967, 89.154). Diese Argumentation folgt konsequent der von Strabon bzw. Ephoros vorgegebenen Sachlage, denn schließlich habe Homer - nach der Interpretation des Strabon - die Kenntnis ihm bekannter Lokalitäten in sein Werk einfließen lassen. Diese Argumentation ignoriert aber die von Herodot - und ebenso von Strabon - überlieferte Lokalisierung der Kimmerier am Schwarzen Meer, zumal es Strabon selbst ist, der die zeitliche Einordnung des Homer unmittelbar mit dem Einfall der Kimmerier nach Kleinasien verbindet (Strab. I 2,9), allerdings ohne damit eine absolutchronologische Verankerung zu ermöglichen. Geradezu mit der Kenntnis der nach Kleinasien einfallenden Kimmerier argumentierte E. Rohde, als er die Bestimmung der Gegend um Cumae als Wohnsitz der Kimmerier als älter ansah als die Zeit, in welcher milesische Kaufleute bis an die Nordküste des Schwarzen Meeres vordrangen. Nach einer gewissermaßen offiziellen Bestätigung der Anwesenheit der Kimmerier am Pontos Euxeinos könnte sich ein Bericht von Kimmeriern am Tyrrhenischen Meer zwar erhalten, aber kaum erst neu gebildet haben (Rohde 1881, 556). In vergleichbarer Weise hat Ephoros allerdings ebenfalls versucht, zum Ruhme seiner Heimatstadt den Bericht zu verbreiten, daß Homer aus Kyme stamme und er obendrein ein Neffe des Hesiod gewesen sei (vgl. Lendle 1992, 136.137). Somit darf durchaus angenommen werden, daß es erst Ephoros war, der den aus der Odyssee des Homer bekannten Eingang zur Unterwelt in die Nähe von Cumae, einer Kolonie seiner Heimatstadt verlegte. Strabon selbst bietet im Rahmen seiner Erörterung der homerischen Geographie aber auch andere Interpretationsmöglichkeiten an (vgl. Strab. III 2,12).

Somit ist deutlich geworden, daß die Angaben, die sich bei Strabon über die Kimmerier am Avernus finden, weder zu einer sprachwissenschaftlichen noch zu einer chronologischen Untersuchung der mit den "historischen" Kimmeriern des Herodot verbundenen Probleme benutzen lassen.


367 Lykophron stellt in seiner "Alexandra" jedoch - obwohl beide Berichte einander unmittelbar folgen - keine direkte Verbindung zwischen den als am Avernus lebend beschriebenen Kimmeriern (Lyk. Alex. 695) und der Befragung des Teiresias in der Unterwelt her (Lyk. Alex. 681-687).
368 Homer selbst stellt keine Verbindung zwischen Kimmeriern und der eigentlichen Totenbefragung her (vgl. Hom. Od. XI 14-19).
369 Dieses Wohnen in unterirdischen Häusern und eine ebenfalls von Ephoros überlieferte Regel, diese Häuser nie bei Sonnenlicht zu verlassen, soll die Beschreibung Homers erklären, daß auf die Kimmerier "niemals schauet strahlend ... der Gott der leuchtenden Sonne" (Hom. Od. XI 15.16).
370 Es ist geradezu erklärte Absicht des Strabon, Homer als ersten Geographen zu belegen (Strab. I 1,11).


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