9.2.2.1 Gûgu von Luddi

Die Hauptquelle für das Verhältnis zwischen dem mit dem herodotischen Gyges gleichgesetzten Gûgu von Luddi und Assurbanipal stellt der sogenannte Zylinder Rm A 492 dar. Ergänzt wird dessen Darstellung durch die Berichte des Zylinders B 493 und die Inschriften auf den Tontäfelchen K 228 und K 2675. Die Bedeutung der Inschriften auf den Tafeln K 228 und K 2675 beruht vor allem darin, daß sie von einer Gesandtschaft des Gûgu von Luddi berichten, der sich unter dem militärischen Druck der Gimirrai schutzsuchend dem Assyrer Assurbanipal unterwarf (Streck 1916a, XXXIII). Die gleichfalls auf diesen Tafeln berichtete Auslieferung von gefangenen Gimirrai an Assurbanipal wird durch den Zylinder Rm A bestätigt, auf dem die Übergabe von zwei Häuptlingen der Gimirrai in eisernen Ketten geschildert wird. Während aber die Inschriftentäfelchen nur von der Ergebenheitsadresse des Gûgu berichten, schildert der Zylinder Rm A anschließend auch noch den Abfall Ägyptens unter Tusamilki von der assyrischen Oberherrschaft, den Gûgu durch Entsendung von Truppen unterstützte (Streck 1916b, 22.23):

"Als er zur Unterstützung des Tusamilki, des Königs von Musur, der das Joch meiner Herrschaft abgeworfen hatte, seine Truppen sandte, und ich es vernahm, flehte ich zu Assur und Istar folgendermaßen: »Vor seinen Feind möge sein Leichnam hingeworfen werden und man möge seine Gebeine wegnehmen«. Wie ich zu Assur gefleht hatte, so vollzog es sich. Vor seinen Feind wurde sein Leichnam hingeworfen und man schleppte seine Gebeine fort. Die Gimirräer, welche er durch meinen Namen unter sich getreten hatte, erhoben sich und überwältigten sein ganzes Land. Nach ihm setzte sich sein Sohn auf seinen Thron."

Im Tusamilki des Zylinders Rm A, der an anderer Stelle auch Pisamilki genannt wird, kann der herodotische Psammetichos identifiziert werden, dem Herodot die Abwendung der Skythengefahr von Ägypten zuschrieb (Hdt. I 105,1). Herodot weiß aber weder von der assyrischen Herrschaft über Ägypten noch vom Abfall des Psammetichos von Assurbanipal. Jedoch berichtet er vom "zufälligen" Eintreffen ionischer und karischer Piraten in Ägypten, die aufgrund ihrer Schwerbewaffnung nach Hoplitenart entscheidend in gerade stattfindende Thronkämpfe zugunsten des Psammetichos eingreifen konnten (Hdt. II 152,4.5). Offenbar schien zu diesem Zeitpunkt die Bedrohung Lydiens durch die Gimirrai gebannt zu sein, denn Gyges muß sich stark genug gefühlt haben, den ägyptischen Aufstand mit eigenen Truppen, die sich vermutlich aus ionischen und karischen Söldnern zusammensetzten, unterstützen zu können. Von all dem berichtet Herodot aber nichts, was Zweifel an der Qualität der von ihm überlieferten Daten zur frühen lydischen Geschichte aufkommen läßt 494. Somit kann Herodot auch kaum als Zeuge dafür angeführt werden, daß kein Abfall des Psammetichos von Assurbanipal stattgefunden habe (so aber Spalinger 1978, 402). Herodot scheint es vielmehr nicht verstanden zu haben, die ihm zur Verfügung stehenden Überlieferungen zur lydischen bzw. ägyptischen Geschichte in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen 495.

Ein Problem chronologischer Art entsteht durch den Umstand, daß aus den Angaben des Herodot eine Regierungszeit für Gyges zwischen 715 und 678 v.Chr. errechnet werden muß 496, die sich mit der Regierungszeit des Assurbanipal von 669 bis 627 v.Chr. nicht überschneidet. Außerdem läßt sich aus den von Herodot gelieferten ägyptischen Daten für Psammetichos eine Regierungszeit von 670 bis 617 v.Chr. berechnen 497, die ebenfalls keine Überschneidung mit der für Gyges errechneten aufweist. Somit erzwingen die aus assyrischen Quellen gewonnenen Daten aber Korrekturen im herodotischen Chronologiegerüst 498.

Die erste Gesandtschaft des Gûgu kann erst nach der Thronbesteigung des Assurbanipal 669 v.Chr. erfolgt sein, was für die Gesandtschaft, den Abfall und den Tod des Gûgu einen terminus post quem ergibt. Zylinder Rm A gibt den Bericht über die erste Gesandtschaft des Gûgu an Assurbanipal zwar im Anschluß an die Darstellung des dritten Feldzugs wieder, aber daraus können keine exakten chronologischen Schlußfolgerungen gezogen werden. Der Verlauf der Beziehungen zwischen Gûgu und Assurbanipal wird hier nämlich von der ersten Gesandtschaft bis zum Tod Gûgus unmittelbar hintereinander und direkt vor dem Bericht über den vierten Feldzug geschildert. Dennoch darf zumindest angenommen werden, daß die erste lydisch-assyrische Kontaktaufnahme erst einige Jahre nach dem Herrschaftsantritt des Assurbanipal erfolgte. Der Abfall des Psammetichos von Assyrien, den Gûgu mit Truppen unterstützte, scheint in den Jahren zwischen 658 und 652 v.Chr. stattgefunden zu haben (Gelzer 1875, 246; Streck 1916a, CCLXXIX; Labat 1967, 87). Zylinder Rm A, der uns vom Sieg der Gimirrai über Gûgu berichtet, ist kurz nach 645 v.Chr. geschrieben worden (Streck 1916a, XVIII; Hartman 1962, 25), womit sich für den Tod des Gûgu zunächst ein terminus ante quem ergibt, wobei der Zylinder Rm A auch schon von einem Nachfolger des Gûgu berichtet.

Derartige Überlegungen führten dazu, die erste Huldigungsgesandtschaft des Gyges in die Zeit um 660 v.Chr. zu datieren (Streck 1916a, CCCLIV Anm. 4; Lehmann-Haupt 1920b, 118), wobei das genaue Datum bisher unbekannt blieb. In den diesem Datum folgenden Jahren müssen sich der Abfall des Gûgu von Assyrien und die anschließende erneute Auseinandersetzung mit den Gimirrai ereignet haben, wobei wir mit dem oben genannten Jahr 645 v.Chr. einen terminus ante quem für diese Ereignisse besitzen. Zusätzlich liefert der Bericht ABL 1391 Informationen über eine direkte Bedrohung Assyriens durch die Gimirrai, die mit den Ereignissen in Lydien in Verbindung gebracht wird. Nach dem Sieg über Gûgu hätten sich die Gimirrai nämlich nach Osten gewandt und in Kilikien die Grenze zum assyrischen Gebiet erreicht (Olmstead 1960, 422.423). Während aber A.T. Olmstead die astronomischen Daten, die in diesem Bericht enthalten sind, als Beleg für eine Datierung dieser Ereignisse in das Jahr 652 v.Chr. deutete, sah L.F. Hartman in den gleichen Angaben klare Beweise für eine Datierung des Dokuments in das Jahr 657 v.Chr. (Hartman 1962, 25.26). Auch wenn keine klare Entscheidung für eines der beiden Jahre getroffen werden kann, so wird immerhin deutlich, daß der Vorstoß von Gimirrai in Richtung Lydien spätestens im Jahr 652 v.Chr. stattgefunden hat und daß die Bedrohung Lydiens durch diese Gimirrai bereits um 660 v.Chr. zu verspüren gewesen sein muß, wenn diese Gefahr der Grund für die lydische Gesandtschaft an Assurbanipal gewesen war. Das steht aber im deutlichen Widerspruch zur Überlieferung des Herodot. Aus dieser muß nicht nur eine Regierungszeit für Gyges errechnen werden, die sich mit der aus den assyrischen Quellen entwickelten Chronologie nicht in Einklang bringen läßt, sondern Herodot weiß auch nichts von der Bedrohung Lydiens durch die Gimirrai bereits zur Zeit des Gyges. Zudem kann diese Bedrohung, die wohl im Tod des Gyges während einer Abwehrschlacht ihren vorläufigen Höhepunkt fand, bereits in die späte erste Hälfte des siebten Jahrhunderts v.Chr. gesetzt werden, entgegen der herodotischen Behauptung, daß der skythische und der kimmerische Einfall in die Staatenwelt des Vorderen Orients gleichzeitig gewesen wären, wobei sich für diese Ereignisse ein Datum erst zu Beginn des letzten Drittels des siebten vorchristlichen Jahrhunderts errechnen läßt.

Die assyrische Überlieferung läßt vermuten, daß die Bedrohung Lydiens durch die Gimirrai auch nach dem Tod des Gyges weiterbestanden hat, denn Zylinder Rm A berichtet, daß der Nachfolger des Gûgu sich wieder schutzsuchend an Assurbanipal gewandt hat. Dem würde entsprechen, daß Herodot für die Regierungszeit des Ardys, des Nachfolgers des Gyges, die Eroberung von Sardes durch die Kimmerier erwähnt. Damit scheint gesichert sein, daß in den Gimirrai zumindest dieser assyrischen Texte die Kimmerier der herodotischen Überlieferung identifiziert werden können. Dabei kann ein sowohl auf Zylinder Rm A als auch auf Zylinder B vorhandener Textteil, der hier in der Übersetzung von M. Streck wiedergegeben ist, deutlich machen, daß die Gimirrai - die "Kimmerier" -, mit denen Gyges zu kämpfen hatte, bereits aus früheren Annalen assyrischer Könige bekannte Kämpfer waren (Streck 1916b, 96-99):

"An dem Tage, an welchem er diesen Traum gesehen hatte, sandte er seinen Gesandten, um mir zu huldigen. Den Gimiräer, einen bösen Feind, der sich vor meinen Vätern nicht gefürchtet und, was mich betrifft, meine königlichen Füße nicht ergriffen hatte."

Dieser Textteil macht klar, daß sich Gimirrai spätestens seit Sanheribs Zeiten gegen Assyrien gestellt haben, denn Assurbanipal gibt unmißverständlich "Väter" an, vor denen sich diese Gimirrai nicht gefürchtet hätten. Damit müssen allerdings sein eigener Vater Assarhaddon und zumindest dessen Vater Sanherib gemeint sein. Außerdem macht der Text deutlich, daß der kimmerische Angriff auf Lydien nicht, wie es beispielsweise J. Lewy angenommen hatte (Lewy 1925, 7), von Assurbanipal veranlaßt wurde. Spätestens seit der Zeit Sanheribs gab es also zumindest einzelne, von Assyrien unabhängige Gimirrai-Gruppen, und diese operierten spätestens zu Assurbanipals Zeit im kleinasiatischen Bereich beiderseits des Halys.


492 Der Umstand, daß sich die Texte auf den Zylindern A und Rm A fast wortwörtlich decken, lenkt hierbei die Aufmerksamkeit auf den Zylinder Rm A, der im Gegensatz zum Zylinder A vorzüglich erhalten ist.
493 Der Zylinder B ist ein achtseitiges Prisma, das von H. Rassam zusammen mit Zylinder A gefunden worden war.
494 Die Angaben des Herodot zu Gyges erschöpfen sich, abgesehen von der ausführlichen Beschreibung der Thronbesteigung, in dieser lapidaren Feststellung: "Aber sonst hat er während seiner achtunddreißigjährigen Regierungszeit keine großen Taten vollbracht" (Hdt. I 14,4).
495 Herodot hat seine Informationen zur ägyptischen Geschichte überwiegend von Priestern im Niltal erhalten (Hdt. II 99,2; II 100,1), wobei über Psammetichos auch die Nachkommen jener Ionier und Karer berichtet haben sollen (Hdt. II 154,3). Der Umstand, daß Gyges kurz nach seiner Unterstützung des Psammetichos ums Leben kam, könnte erklären, weshalb die ägyptische Überlieferung die lydische Unterstützung verschweigen konnte. Die assyrischen Quellen geben zudem an, daß der Nachfolger des Gûgu sich wieder der assyrischen Oberherrschaft unterwarf (Zylinder Rm A Col. II 120-125), womit die von Gyges ausgesandten Söldner wahrscheinlich auf sich gestellt waren.
496 Vgl. dazu Tab. 2.
497 Vgl. dazu Fußnote 91.
498 Es kann und soll nicht Aufgabe dieser Arbeit sein, neue Datierungen zu entwickeln. Es soll nur auf die Möglichkeiten aufmerksam gemacht werden, welche die Assyriologie zur Korrektur herodotischer Daten bereithält.


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