5.1.3.1 Die Kolonien der Propontis

G.L. Huxley ging davon aus, daß die Milesier nicht regelmäßig ins Schwarze Meer gesegelt sein werden, bevor sie sich in der Propontis etabliert hatten, wobei er die frühesten milesischen Siedlungen um das heutige Marmarameer von etwa 675 v.Chr. an angab (Huxley 1966, 65). Aber bereits die Bestimmung von Gründungsdaten für diese griechischen Städte der Propontis bereitet bedeutende Schwierigkeiten. So wurde die Behauptung, daß Prokonnesos von etwa 650 v.Chr. an existierte, von Huxley im wesentlichen damit begründet, daß Aristeas aus dieser Stadt stamme (Huxley 1966, 65). Die gleiche Begründung 295 veranlaßte hingegen C. Roebuck dazu, die ganze Gruppe von Hafenstädten und Siedlungen um Kyzikos, Artake und Prokonnesos mit Gründungsdaten bereits um 700 v.Chr. anzugeben (Roebuck 1959, 112.113). In der lateinischen Version der Chronik des Eusebios von Hieronymus finden sich für die Gründung von Kyzikos drei verschiedene Jahreszahlen, von denen aber nur zwei, nämlich 756 und 679 v.Chr., ernsthaft als Gründungsdaten in Erwägung gezogen werden müssen 296. Die Einordnung des ältesten archäologischen Materials aus der Propontis in das frühe siebte Jahrhundert v.Chr. (vgl. Boardman 1981, 283) scheint das spätere dieser beiden Daten zu bestätigen 297.

Ein ungefähres Gründungsdatum für das an der Einfahrt zum Hellespont gelegene Abydos liefert die Behauptung, daß diese Stadt von Milesiern mit Erlaubnis des Lyderkönigs Gyges gegründet wurde (Thuk. VIII 61; Strab. XIII 1,22), womit sich nach den aus Herodot berechenbaren Regierungsdaten für Gyges 298 ein Datum im ersten Viertel des siebten vorchristlichen Jahrhunderts ergeben würde. Es ist aber sonderbar, daß Gyges ausgerechnet Milesiern die Erlaubnis zur Gründung einer Kolonie in der von ihm beherrschten Troas gegeben haben soll, wenn er gegen deren Stadt sozusagen gleichzeitig Krieg führte (Hdt. I 14,4) 299. Allerdings befindet sich Abydos an der Stelle, an der auch Xerxes den Hellespont überbrücken ließ (Strab. XIII 1,22; Hdt. VII 33,1), womit deren Stellung als bedeutender militärischer Kreuzungspunkt zwischen Europa und Asien offenkundig wird. Die Dardanellenwasserstraße dürfte somit für wandernde Völker eher eine Brücke als eine Grenze gewesen sein (vgl. Focke 1951, 575). Bevor Abydos durch die Milesier besiedelt wurde, sollen an dieser Stelle Thraker gesiedelt haben (Strab. XIII 1,22), die demnach der griechischen Besiedlung weichen mußten 300. Möglicherweise war somit diese erste Ansiedlung keine Kolonie im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern vielmehr eine Niederlassung ionischer Söldner, die hier plaziert wurden, um den Hellespont zu bewachen und damit vermutlich vor allem thrakische Übergriffe nach Kleinasien zu verhindern (Roebuck 1959, 112; Huxley 1966, 53).

Wenn allerdings Abydos erst für das erste Viertel des siebten Jahrhunderts v.Chr. 301 als griechische Siedlung gesichert ist - wobei die Stellung als milesische Kolonie durchaus bezweifelt werden darf -, so dürften die Kolonien an der Propontis, im Hinblick auf die auch für den maritimen Zugang in die Propontis strategisch derart wichtigen Position von Abydos, kaum früher angelegt worden sein.

Am Zugang zum thrakischen Bosporos wurden auf der asiatischen Seite Kalchedonia und auf der europäischen Seite Byzantion gegründet, wobei für beide Städte das mittelgriechische Megara als Mutterstadt genannt wird (vgl. Bilabel 1920, 53; Boardman 1981, 284). Die Bedeutung dieser Städte für die Schiffahrt in den Pontos läßt sich daran ermessen, daß während des ionischen Aufstandes Histiaios, der ehemalige Tyrann Milets, bei Byzantion die Zufahrt zum Bosporos mit nur acht Trieren blockieren konnte (Hdt. VI 5,3). Aber auch der Übergang von Europa nach Asien - bzw. umgekehrt - war an dieser Stelle möglich. Dareios ließ während seines Skythenfeldzuges bei Kalchedonia eine Brücke errichten, um bei dieser Stadt den Bosporos zu überqueren (Hdt. IV 85,1). Es ist erstaunlich, daß Milet es sich entgehen ließ, diese Positionen selbst einzunehmen. Dieses Versäumnis läßt sich nur damit erklären, daß die strategische Bedeutung dieser Stellen noch nicht erkannt wurde, was aber nur solange der Fall war, solange noch nicht regelmäßig ins Schwarze Meer gefahren wurde (vgl. Cook 1946, 72). Wenn man zugleich annimmt, daß die Milesier den Kolonisten aus Megara auf den nähergelegenen Plätzen in der Propontis zuvorgekommen waren (Boardman 1981, 284), so würden die Gründungsdaten für Byzantion und Kalchedonia in einen Zeitraum fallen, der den Übergang von der intensiven Kolonisierung der Propontis zu der des Schwarzen Meeres darstellt.

In der lateinischen Version der Chronik des Eusebios finden sich Gründungsjahre für beide Städte: Kalchedonia soll im Jahr 685 v.Chr., Byzantion hingegen erst im Jahre 659 v.Chr. gegründet worden sein. Herodot bestätigt dies insoweit, als die Byzantiner selbst erzählt haben sollen, daß ihre Stadt 17 Jahre nach Kalchedonia gegründet wurde (Hdt. IV 144,2) 302. Es scheint demnach unwahrscheinlich, daß an den Küsten des Schwarzen Meeres bereits vor 685 v.Chr. Kolonien gegründet wurden.


295 Vgl. dazu Roebucks Datierung für Aristeas in Kap. "4.3.1.4 Das Gedicht des Aristeas von Prokonnesos".
296 Das dritte in der Chronik genannte Datum verweist auf eine Gründung von Kyzikos bereits im Jahr 1270 v.Chr. Die Chronik vermeldet zum gleichen Jahr aber auch Argonautorum historia. Dadurch wird offensichtlich, daß dieses Gründungsdatum sich aus der chronologischen Berechnung des Argonautenzuges ergibt.
297 Möglicherweise orientierte sich aber die Datierung der gefundenen Keramik an dem von Eusebios überlieferten Gründungsdatum. Dann wäre diese "Bestätigung" des aus einer schriftlichen Quelle gewonnenen Datums durch archäologisches Material aber unbrauchbar.
298 Vgl. dazu Tab. 2 in Kap. "4.1.2.1 Die Eroberung von Sardes während der Herrschaft des Ardys".
299 Es kann kaum davon gesprochen werden, daß Abydos gar "mit lydischer Hilfe" gegründet wurde und dies als "ökonomische Begünstigung" der griechischen Küstenstadt durch den lydischen Herrscher aufgefaßt werden muß (so Walser 1984, 9 Anm. 26).
300 Abydos findet bereits Erwähnung bei Homer, wo es als trojanisches Einflußgebiet gilt (Hom. Il. IV 500).
301 Da das Gründungsdatum von Abydos nach Strabon mit der Lebenszeit des Gyges verknüpft ist, muß sich eine Verschiebung der Datierung des Gyges auch auf das Gründungsdatum auswirken.
302 Sicherlich gewann Eusebios viele seiner Daten durch eine intensive Herodotanalyse. Somit kann eine derartige "Bestätigung" aber nur von begrenzter Aussagekraft sein.


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