5.1.3.2 Die Kolonien im Schwarzmeerraum

Eine der Hauptquellen für die antike Geographie des Schwarzmeerraumes ist die Weltbeschreibung des sogenannten "Pseudo Skymnos". Diese Weltbeschreibung stellt auch - allerdings recht allgemein gehaltene - Synchronismen zwischen Städtegründungen im Schwarzmeerraum und Ereignissen der medischen und persischen Geschichte her. Seine Angaben gehen wohl auf Ephoros von Kyme, einen Historiker des vierten Jahrhunderts v.Chr. zurück, für die pontischen Küsten dürfte auch das Werk des Demetrios von Kallatis, eines Geographen des späten dritten Jahrhunderts v.Chr., dem Skymnos als Quelle gedient haben (Busolt 1893, 441; Roebuck 1959, 119). Pseudo Skymnos bezeugt für den Pontos Euxeinos insgesamt zwölf milesische Kolonien, von denen sich zunächst zwei, nämlich Istros und Sinope, direkt mit der Geschichte der Kimmerier verbinden lassen.

Istros ist durch sein Gründungsdatum von besonderem Interesse, weil diese Stadt nach den Angaben des Pseudo Skymnos eine Gründung Milets ist, die zur Zeit des skythischen Einfalls nach Asien stattgefunden habe. Pseudo Skymnos gibt weiterhin an, daß die Skythen die aus dem Gebiet des kimmerischen Bosporos fliehenden Kimmerier verfolgt hätten (Skymn. 767-772). Während Herodot lediglich berichtet, daß Istros eine milesische Gründung im Mündungsbereich der Donau ist, ohne eine bestimmtes Datum zu nennen (Hdt. II 33,4), findet sich bei Eusebios für die Gründung der Stadt als Datum das Jahr 657 v.Chr. 303. Dieser Datierung ist die moderne Forschung im wesentlichen gefolgt, wobei die durch archäologische Funde begründeten Vorschläge für ein Gründungsdatum zwischen 650 und 600 v.Chr. schwanken, je nach dem zeitlichen Ansatz, der für die Datierung der in Istros bei Ausgrabungen gefundenen ostionischen Keramik bevorzugt wird (vgl. etwa Boardman 1981, 293; Ehrhardt 1983, 71). Allerdings erweisen sich die Datierungen, die für dieses archäologische Material vorgeschlagen werden, zuweilen als unmittelbar abhängig von den aus den schriftlichen Zeugnissen gewonnenen zeitlichen Ansätzen (vgl. Dimitriu u. Coja 1958, 76-80).

Sinope gewinnt wegen seiner Gründungsgeschichte, in die auch Kimmerier verwickelt sein sollen, für diese Untersuchung Bedeutung. Herodot berichtet, daß die vor den Skythen nach Asien flüchtenden Kimmerier die Halbinsel besiedelten, auf der zu seiner Zeit, also im fünften Jahrhundert v.Chr., die hellenische Stadt Sinope lag (Hdt. IV 12,2). Dieser Bericht impliziert also ein "nachkimmerisches" Gründungsdatum, wobei die Gründer dieser Stadt Sinope Milesier gewesen sein sollen (Strab. XII 3,11; Arr. peripl. m. Eux. 14,5). Strabon berichtet aber, daß in Sinope ein Autolykos genannter Stadtgründer wie ein Gott verehrt wurde, wobei dieser Autolykos ein Schiffsgefährte des Iason gewesen sein soll; Milesier hätten diesen Ort erst zu einem späteren Zeitpunkt besiedelt (Strab. XII 3,11). Pseudo Skymnos berichtet von einer Gründung der Stadt Sinope bereits vor dem Kimmeriereinfall 304 nach Kleinasien durch die Thessaler Autolykos, Deileon und Phlogios, die - an einem Feldzug gegen die Amazonen teilnehmend - sich dort niederließen. Anschließend sei es zu einer erneuten Gründung von Sinope durch den Milesier Abrondas gekommen, der aber durch die Kimmerier beseitigt wurde; nach dem Abzug der Kimmerier seien dann Koos und Kretines, Flüchtlinge aus Milet, als Neugründer erschienen (Skymn. 941-952). Die "vorkimmerischen" Gründungen lassen sich jedoch weder chronologisch genauer fassen - zumal deren Einbindung in die Sagenkreise der Argonauten bzw. der Amazonenzüge des Herakles oder des Theseus unglaubwürdige Datierungen fordern würde -, noch gibt es archäologische Beweise für ein "vorkimmerisches" Sinope (vgl. Gajdukevic 1971, 24.25). Wenig sinnvoll scheint es auch, das Gründungsdatum Sinopes mit den sicherlich zu frühen Jahresangaben für die Gründungsdaten von Kyzikos 305 und Trapezos verbinden zu wollen (Miltner 1939, 192; Drews 1976, 18), zumal Trapezos sogar als Gründung Sinopes gilt (Xen. an. IV 8,22). Akzeptiert man das für Trapezos von Eusebios in der lateinischen Version des Hieronymus angegebene Jahr 756 v.Chr., so müßte also für Sinope ein noch früheres Datum angenommen werden. Das "nachkimmerische" Gründungsdatum hingegen würde Sinope chronologisch mit Istros verbinden, für das Eusebios das Jahr 657 v.Chr. angibt. Für Sinope selbst gibt Eusebios als Gründungsjahr 631 v.Chr. an. Ausgrabungen konnten bislang kein Material liefern, das vor das späte siebte Jahrhundert v.Chr. datiert werden kann (Boysal 1959; Tsetskhladze 1994, 116).

Olbia ist deshalb von besonderem Interesse, weil Herodot selbst diese Stadt um 450 v.Chr. besucht haben soll und deswegen zuweilen behauptet wird, daß der größte Teil seiner Informationen über die Gebiete am Schwarzen Meer von den Bewohnern dieser Stadt und deren Umgebung stammen würde (Neubauer 1960, 139; Rolle 1985, 478; 1991, 204). Olbia, das nachher auch Borysthenes genannt wurde (Skymn. 806) 306, wurde im Gebiet, in dem Hypanis und Borysthenes zusammenflossen, von Milesiern "zur Zeit der Mederherrschaft" gegründet (Skymn. 808.809). Allerdings läßt sich aus der Information "zur Zeit der Mederherrschaft" des sogenannten Pseudo Skymnos (Skymn. 809) keine genauere Datierung gewinnen, weil damit ein Zeitraum umrissen ist, der schon mit der Regierungszeit des Meders Phraortes beginnt und eigentlich bis zu Alexander dem Großen reicht. Bei Eusebios findet sich das Gründungsjahr 655 v.Chr., das somit nur unwesentlich von dem für Istros angegebenen Datum differiert. Die Keramikfunde aus dem Gräberfeld auf der nahen Insel Berezan, die in der Antike wohl eine Halbinsel war, erlauben Datierungen in das sechste bzw. in das späte siebte Jahrhundert v.Chr. (Boardman 1981, 294; Trejster u. Vinogradov 1993, 538). Für Olbia selbst wird als Gründungsdatum ein Zeitpunkt in der ersten Hälfte des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts angenommen (Trejster u. Vinogradov 1993, 534; Vinogradov u. Kryzickij 1995, 15). Somit dürfte auch Olbia in einer Zeit gegründet worden sein, in der Kimmerier und Skythen den Griechen bereits durch ihre Aktivitäten in Kleinasien bekannt waren.

Pantikapaion 307 ist zunächst deshalb aus der großen Anzahl der griechischen Kolonien im Bereich der heutigen Krim herauszuheben, weil diese Stadt die erste der milesischen Kolonien im Bereich des Kimmerischen Bosporos gewesen sein soll: Ammianus Marcellinus bezeichnet Pantikapaion nämlich als Mutter der übrigen milesischen Pflanzstädte am Bosporos (Amm. Marc. XXII 8,26). Weitere Angaben antiker Schriftsteller bestätigen zumindest, daß Pantikapaion eine milesische Kolonie war (Strab. VII 4,4; Plin. nat. IV 87). Allerdings gibt die antike schriftliche Überlieferung keinen Hinweis auf ein genaues Gründungsdatum 308. Die modernen Datierungsvorschläge reichen im wesentlichen von der zweiten Hälfte des siebten vorchristlichen Jahrhunderts bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts v.Chr. (vgl. Danov 1962, 119; Tsetskhladze 1994, 119). Untersuchungen zu der in Pantikapaion gefundenen Keramik scheinen keine frühere Datierung als an das Ende des siebten vorchristlichen Jahrhunderts zu erlauben (Boardman 1981, 297).

Niederlassungen, deren Benennungen unmittelbar mit dem Namen der Kimmerier verbunden sind, sollte gleichfalls besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die Nachrichten der antiken Schriftsteller lassen darauf schließen, daß mehrere Orte mit derartigen Namen versehen worden waren. So berichtet Herodot, daß "noch jetzt", also im fünften vorchristlichen Jahrhundert, eine "Kimmeria" genannte Stadt und ein ebensolcher Hafen in Skythien existiert habe (Hdt. IV 12,1). Herodot erwähnt desweiteren "kimmerische Hafenplätze", die er durch ihre Lage an der Grenze zwischen Europa und Asien charakterisiert (Hdt. IV 45,2). Diese "kimmerischen Hafenplätze" des Herodot lassen sich mit der "kimmerischen Anlegestelle" des Strabon verbinden, die dieser als den Ort an der östlichen Seite des Kimmerischen Bosporos und am Ausgang zur Maiotis erwähnt, von dem die das Asowsche Meer befahrenden Schiffe ausliefen (Strab. XI 2,4). Von dieser "kimmerischen" Anlegestelle, die Strabon durch seine Wortwahl als eher kleine Niederlassung kennzeichnet, berichtet dieser wenig später, daß sie "früher" eine Kimmerikon genannte Stadt gewesen sei (Strab. XI 2,5). Strabons Beschreibung dieser Stadt, die auf einer Halbinsel erbaut worden sein soll und welche die Landenge mit Wall und Graben verschlossen habe, paßt aber eher auf einen ungefähr 45 km südlich von Pantikapaion gelegenen Ort (Gajdukevic 1971, 197 Anm. 82; vgl. Minns 1913, 20), von dem der anonyme Verfasser eines Periplus des Schwarzen Meeres ebenfalls die Benennung "Kimmerikon" überliefert hat (Anon. peripl. m. Eux. 50). Die Lage dieser Stadt Kimmerikon am Berg Opuk stellt zudem eine Verbindung zu einer anderen Mitteilung des Strabon her, der auch von einem nach den Kimmeriern benannten Berg berichtet (Strab. VII 4,3). Ausgrabungen im Bereich vom Kimmerikon am Opuk 309 förderten keine auf eine griechische Besiedlung hinweisenden Überreste zu Tage, die vor das Ende des sechsten Jahrhunderts v.Chr. zurückreichen (Gajdukevic 1971, 197.198). Mit diesen archäologischen Daten läßt sich die Angabe des Pseudo Skymnos verbinden, der für eine "Kimmeris Polis" ein Gründungsdatum erst in der Zeit der Bosporostyrannen angibt (vgl. Skymn. 896-899).

Bis zum heutigen Tag wurden an keinem Ort des Schwarzmeerraumes - von Berezan möglicherweise abgesehen - griechische Überreste gefunden, die zweifelsohne älter sind als das sechste Jahrhundert v.Chr. (Minns 1913, 570; Rolle 1985, 466). Aber selbst wenn man davon ausgeht, daß bereits im Laufe des siebten vorchristlichen Jahrhunderts griechische Kolonien an den Ufern des Schwarzen Meeres existierten (so Kryzickij 1991, 187), gelingt es damit nicht, griechische Aktivitäten entlang der Küsten des Pontos Euxeinos bereits für die Zeit vor dem ersten Auftreten von Kimmeriern in Kleinasien nachzuweisen. Vielmehr waren bereits rund einhundert Jahre seit dem urkundlich bezeugten Erscheinen der Kimmerier in Kleinasien vergangen, als die Griechen ihre ersten Kolonien im Nordpontosgebiet gründeten (vgl. dazu Tohtasjev 1996, 8.9). Für die Existenz griechischer Niederlassungen im Schwarzmeerraum im achten Jahrhundert v.Chr. gibt es aber keinerlei archäologische Indizien. Zudem muß darauf hingewiesen werden, daß auch Herodot keine Hinweise über Siedlungen der Griechen am Pontos Euxeinos in "kimmerischer" oder gar "vorkimmerischer" Zeit zu liefern vermag (Ehrhardt 1983, 49).

Wenn es nicht möglich ist, sichere Beweise für eine Anwesenheit von Griechen im Schwarzmeerraum im siebten oder gar achten vorchristlichen Jahrhundert zu erbringen, so lassen sich zumindest keine Griechen als zeitgenössische Zeugen für eine Anwesenheit von Kimmeriern im nordpontischen Bereich heranführen.


303 Dieser Ansatz läßt sich nur unter bestimmten Bedingungen mit den Angaben des Herodot für den Kimmeriersturm in Einklang bringen (vgl. dazu das Kap. "4.2.2.2 Der Aufenthalt der Skythen in Asien").
304 Die von Pseudo Skymnos bezeugte Gründung Sinopes "vor dem Kimmeriersturm" veranlaßte N. Ehrhardt dazu, für ein konkretes Datum "tatsächlich an das achte Jahrhundert v.Chr. zu denken" (Ehrhardt 1990, 21). Anhand schriftlicher Quellen sind "Kimmerier" im Bereich Sinopes aber nicht vor dem siebten Jahrhundert nachweisbar. Zudem bezeichnete Ehrhardt den Pseudo Skymnos bzw. seine Vorlagen an anderer Stelle als "in der Chronologie unsicher" (Ehrhardt 1990, 29). Geradezu als Beleg für eine frühe Gründung führte V. Parker die Behauptung von Herodot an, daß sich zeitweilig Kimmerier im Bereich von Sinope niedergelassen hätten. Indem er aber die Frage stellte, wie Herodot von deren Anwesenheit hätte erfahren sollen, wenn es dort keine Griechen gegeben hätte, scheint er Nicht-Griechen als Gewährsleute Herodots geradezu auszuschließen (vgl. Parker 1995, 9 Anm. 7).
305 Für Kyzikos finden sich bei Eusebios gleich mehrere Zahlen: 1270 v.Chr., 756 v.Chr. und 679 v.Chr. Deutlich versucht Eusebios mit dem ersten Datum Kyzikos bis in die Zeit des Argonautenzuges zu rücken, wohl weil die Argonauten dort Station gemacht haben sollen (Apoll. Rhod. I 980-984).
306 Herodot berichtet, daß die östlich des Borysthenes lebenden "Ackerbauskythen" von den am Hypanis siedelnden Griechen Borystheneiten genannt würden, während sich diese Griechen selbst Olbiopoliten nennen würden (Hdt. IV 18,1). Allerdings bezeichnet Herodot an anderer Stelle die Bewohner der Stadt Olbia, die von Milesiern gegründet worden sein soll, als Borystheneiten (Hdt. IV 78,3; vgl. IV 53,5).
307 Zum Namen der Stadt vgl. die Erörterungen in Kap. "5.2.2 Zu einigen Toponymen im Schwarzmeerraum".
308 Wenig hilfreich sind die Bemerkungen des Stephanos von Byzanz s.v. "Pantikapaion" (Steph. Byz. 501,13-16; 502,1-3). Danach wäre Pantikapaion von einem Sohn des Aietes, des mythischen Königs der Kolcher, gegründet worden.
309 Eine Zusammenstellung der Berichte über die Ausgrabungen in Kimmerikon findet sich bei Gajdukevic 1971, 197 Anm. 83.


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